Die einzige Wahrheit
Gericht.«
Katie nickte, drehte sich aber nicht um. Ellie betrachtete die Frauenrücken, dankbar, daß Katie ihr den Anblick eines vollen Tellers mit Eiern und Schinken und Wurst erspart hatte. Sie nippte an ihrem Tee und erwartete, daß ihr Magen erneut rebellierte, doch die Übelkeit ließ nach. Als sie ausgetrunken hatte, fühlte sie sich besser als am ganzen Wochenende.
Sie wollte nicht wieder von der Schwangerschaft anfangen, erst recht nicht heute, aber sie hatte das Gefühl, sich für Katies Aufmerksamkeit bedanken zu müssen. »Der Tee«, flüsterte Ellie, als sie zwanzig Minuten später hinten in Ledas Auto einstiegen, »war genau das richtige.«
»Bedank dich nicht bei mir«, flüsterte Katie. »Den hat Mam für dich gemacht.«
In den vergangenen Monaten hatte Sarah ihr beim Essen stets Berge auf den Teller gehäuft. Die plötzliche Umstellung des Speiseplans war verdächtig. »Hast du ihr erzählt, daß ich schwanger bin?« fragte Ellie.
»Nein. Sie hat dir Tee gekocht, weil du dir wegen des Prozesses Sorgen machst. Kamillentee beruhigt die Nerven.«
Ellie entspannte sich. »Er beruhigt auch den Magen.«
»Ja, ich weiß«, sagte Katie. »Für mich hat sie auch immer welchen gemacht.«
»Wann hat sie denn gedacht, daß du dir Sorgen machst?«
Katie zuckte die Achseln. »Damals, als ich schwanger war.«
Bevor sie weitersprechen konnte, setzte Leda sich hinters Steuer und sah in den Rückspiegel. »Ist das für dich in Ordnung, mit mir im Auto zu fahren, Katie?«
»Der Bischof hat sich bestimmt schon daran gewöhnt, daß für mich Ausnahmen gemacht werden.«
»Wo bleibt denn Samuel?« knurrte Ellie und blickte zum Fenster hinaus. »Richter schätzen es nicht sonderlich, wenn man gleich am ersten Tag der Zeugenvernehmung zu spät kommt.«
Als hätte sie ihn damit herbeigezaubert, kam Samuel vom Feld hinter dem Stall angelaufen. Das Jackett seines Sonntagsanzugs hing offen, der schwarze Hut saß ihm schief auf dem Kopf. Er nahm ihn ab und stieg vorn neben Leda ein. »Tut mir leid«, murmelte er. Als Leda losfuhr, drehte er sich um. Er reichte Katie ein kleines, welkendes vierblättriges Kleeblatt, das schlaff auf ihrer Handfläche lag. »Es soll dir Glück bringen«, sagte Samuel und lächelte sie an.
»Schönes Wochenende gehabt?« fragte George, als sie im Gerichtssaal Platz nahmen.
»Ging so«, antwortete Ellie schroff, während sie ihre Unterlagen auf dem Tisch zurechtlegte.
»Da ist aber jemand gereizt. Ist gestern abend wohl spät geworden, was?« George grinste. »Reicht das jetzt?« fragte Ellie und starrte ihn gleichgültig an.
»Bitte erheben Sie sich für die ehrenwerte Richterin Philomena Ledbetter!«
Die Richterin nahm Platz. »Guten Morgen«, sagte sie und schob sich ihre Lesebrille auf die Nase. »Am Freitag haben wir uns vertagt, nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Zeugenvernehmung abgeschlossen hatte. Damit sind heute Sie an der Reihe, Ms. Hathaway. Sind Sie soweit?«
Ellie erhob sich. »Ja, Euer Ehren.«
»Ausgezeichnet. Rufen Sie bitte Ihren ersten Zeugen auf.«
»Die Verteidigung ruft Jacob Fisher in den Zeugenstand.«
Katie sah zu, wie ihr Bruder den Saal betrat. Als er vereidigt wurde, zwinkerte er ihr zu. Ellie lächelte ihm aufmunternd zu. »Würden Sie bitte Ihren Namen und Ihre Adresse nennen?«
»Jacob Fisher. North Street zweihundertfünfundfünfzig, State College, Pennsylvania.«
»In welcher Beziehung stehen Sie zu Katie?«
»Ich bin ihr älterer Bruder.«
»Aber Sie wohnen nicht in Ihrem Elternhaus?«
Jacob schüttelte den Kopf. »Schon seit einigen Jahren nicht mehr. Ich bin auf der Farm meiner Eltern amisch aufgewachsen und mit achtzehn getauft worden, aber dann bin ich aus der Glaubensgemeinschaft ausgetreten.«
»Warum?«
Jacob sah zu den Geschworenen hinüber. »Ich war der festen Überzeugung, daß ich mein Leben lang amisch sein würde, doch dann entdeckte ich etwas, das mir noch mehr bedeutete als mein Glaube.«
»Was war das?«
»Bildung. Die Amischen sind der Überzeugung, daß die Schule nach der achten Klasse abgeschlossen werden sollte. Alles, was darüber hinausgeht, verstößt gegen die Ordnung, die Regeln ihres Glaubens.«
»Es gibt Regeln?«
»Ja. Genau das, was die meisten Leute mit den Amischen verbinden – daß sie keine Autos fahren oder Traktoren benutzen dürfen. Die Art, wie sie sich kleiden. Daß sie keinen elektrischen Strom und kein Telefon haben. All die Dinge, die sie als Gruppe erkennbar machen. Wenn man als Amischer
Weitere Kostenlose Bücher