Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
Erinnerung.
    »Könnte es sein, daß du dich vielleicht nicht mehr daran erinnerst?« fragte ich mit sanfter Stimme.
    Katies Augen blickten mich an, groß und meerblau. »Ich bin Donnerstag abend schlafen gegangen. Ich bin Freitag morgen aufgewacht, nach unten gegangen und hab Frühstück gemacht. Das ist alles.«
    »Du erinnerst dich nicht daran, Wehen bekommen zu haben. Du erinnerst dich nicht daran, runter in den Stall gegangen zu sein.«
    »Nein.«
    »Gibt es jemanden, der bestätigen kann, daß du die ganze Nacht geschlafen hast?« drängte ich.
    »Ich weiß nicht. Ich hab ja geschlafen.«
    Seufzend klopfte ich mit den Händen auf die Matratze meines Bettes. »Was ist mit der Person, die hier schläft?«
    Die Farbe wich aus Katies Gesicht. »Da schläft niemand.«
    »Du erinnerst dich nicht daran, daß das Baby aus dir herausgekommen ist«, sagte ich. »Du erinnerst dich nicht daran, es im Arm gehalten und dann in ein Hemd gewickelt zu haben.«
    Eine ganze Weile starrte Katie mich an. »Haben Sie schon mal ein Kind bekommen?«
    »Es geht hier nicht um mich«, sagte ich. Aber ein Blick in ihr Gesicht verriet mir, daß sie wußte, daß auch ich nicht die Wahrheit sagte.
    Es gab Haken an den Wänden, aber keine Schränke. Mein Koffer lag offen auf dem Bett, randvoll mit Jeans und Blusen und Sommerkleidern. Nach kurzer Überlegung zog ich ein einziges Kleid heraus, hängte es an einen der Haken und machte den Koffer wieder zu.
    Es klopfte an der Tür, als ich mein Gepäck gerade in die Ecke hinter den Schaukelstuhl schleifte. »Herein.« Sarah Fisher trat ein. Sie trug einen Stapel Handtücher, so hoch, daß fast ihr Gesicht dahinter verschwand. Sie legte ihn auf die Kommode. »Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?«
    »Ja, danke. Katie hat mir alles gezeigt.«
    Sarah nickte förmlich. »Abendessen gibt es um sechs«, sagte sie und wandte mir dann den Rücken zu.
    »Mrs. Fisher«, rief ich, »ich weiß, daß das nicht einfach für Sie ist.«
    Die Frau blieb in der offenen Tür stehen, eine Hand an den Rahmen gelegt. »Ich heiße Sarah.«
    »Sarah, gut.« Ich lächelte, ein gezwungenes Lächeln, aber zumindest gab sich eine von uns Mühe. »Wenn Sie mich zu dem Fall Ihrer Tochter irgend etwas fragen möchten, können Sie das gerne tun.«
    »Ich habe eine Frage.« Sie verschränkte die Arme und starrte mich an. »Haben Sie einen festen Glauben?«
    »Wie bitte?«
    »Was sind Sie, Episkopalin? Katholikin?«
    Sprachlos schüttelte ich den Kopf. »Inwiefern hat meine Religion irgend etwas mit der Tatsache zu tun, daß ich Katie verteidige?«
    »Wir erleben öfter, daß Leute hierherkommen, die denken, sie wollten schlicht werden. Als wäre das die Antwort auf alle Probleme in ihrem Leben«, sagte Sarah bitter.
    Verblüfft über ihre Direktheit, sagte ich: »Ich bin nicht hier, weil ich den amischen Glauben annehmen will. Ehrlich gesagt, ich wäre überhaupt nicht hier, wenn es nicht darum ginge, Ihre Tochter vor dem Gefängnis zu bewahren.«
    Wir starrten einander an, herausfordernd. Schließlich wandte Sarah sich ab, nahm einen Quilt vom Fußende eines der Betten und faltete ihn neu zusammen. »Wenn Sie keine Episkopalin oder Katholikin sind, woran glauben Sie dann?«
    Ich zuckte die Achseln. »An nichts.«
    Sarah drückte den Quilt an ihre Brust, von meiner Antwort überrascht. Sie sagte kein Wort, aber das mußte sie auch nicht: Sie fragte sich, wie um alles in der Welt ich bloß meinen konnte, daß es Katie war, die Hilfe brauchte.
    Nach meinem Gespräch mit Sarah zog ich mir Shorts und ein T-Shirt an. Ich beschloß, die Farm zu erkunden. Ich ging kurz in die Küche, wo Sarah bereits das Abendessen zubereitete, um ihr zu sagen, was ich vorhatte.
    Die Frau nahm vermutlich gar nicht wahr, was ich sagte. Sie starrte auf meine Arme und Beine, als liefe ich nackt herum. Was ich in ihren Augen wohl auch tat. Sie wurde rot, drehte sich dann hastig wieder zur Arbeitsplatte um. »Ja«, sagte sie. »Gehen Sie nur.«
    Ich ging an den Himbeerbüschen hinter dem Silo vorbei bis zu den Feldern. Dann stattete ich dem Stall einen Besuch ab, blickte in die trägen Augen der Kühe, die in ihren Boxen ange-kettet waren. Ich ließ die Hand sacht über das grelle Poli-zeiband gleiten, sah mich am Fundort des toten Babys nach weiteren Hinweisen um. Und dann schlenderte ich ziellos um-her, bis ich zum Bach kam.
    Wenn ich früher als kleines Mädchen im Sommer bei Leda und Frank war, lag ich oft stundenlang am Bach auf dem Bauch und

Weitere Kostenlose Bücher