Die einzige Wahrheit
beobachtete die Wasserläufer, die über die Oberfläche huschten, während Libellenpärchen miteinander tanzten. Ich tauchte meinen Finger ein und sah zu, wie das Wasser sich einen Weg um ihn herum suchte und dahinter wieder zusammenfloß.
Der Bach bei den Fishers war schmaler als der, mit dem ich aufgewachsen war. An einer Stelle war ein ganz kleiner Wasserfall. Bestimmt war er ein beliebter Spielplatz für die Fisher-Kinder gewesen. Weiter unten weitete sich der Bach zu einem kleinen natürlichen Teich, der von Weiden und Eichen beschattet wurde.
Ich hielt einen gegabelten Ast übers Wasser, als könnte ich per Wünschelrute eine Verteidigungsstrategie finden. Es bestand immer noch die Möglichkeit, daß Katie eine Schlafwandlerin war – sie gab an, nicht zu wissen, was zwischen dem Zeitpunkt, als sie zu Bett gegangen war, und dem Zeitpunkt, als sie erwachte, geschehen war. Es war weit hergeholt, zugegeben, aber in den letzten Jahren waren solche Strategien erfolgreich gewesen – und bei einem derart aufsehenerregenden Fall, wie dieser es zweifellos sein würde, war das möglicherweise meine beste Chance.
Abgesehen davon gab es zwei Möglichkeiten. Entweder Katie hatte es getan, oder sie hatte es nicht getan. Obwohl mir die Akten der Staatsanwaltschaft noch nicht offengelegt worden waren, wußte ich, daß keine Anklage erhoben worden wäre, wenn keine stichhaltigen Beweise gegen Katie vorlägen. Was bedeutete, daß ich herausfinden mußte, ob sie in dem Augenblick, als sie das Kind tötete, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gewesen war. Falls nicht, würde ich Katies Verteidigung auf Unzurechnungsfähigkeit aufbauen müssen, und das hatte im Staate Pennsylvania bislang in nur ganz wenigen Fällen zu einem Freispruch geführt.
Ich seufzte. Ich hätte wahrscheinlich eine bessere Chance, wenn ich zu beweisen versuchte, daß das Kind von allein gestorben war.
Ich ließ den Ast fallen und dachte darüber nach. Für jeden Gerichtsmediziner, der als Zeuge der Anklage aussagen würde, daß das Kind ermordet worden war, konnte ich wahrscheinlich einen Sachverständigen aufbieten, der bestätigen würde, daß es an Unterkühlung gestorben oder zu früh zur Welt gekommen war oder aus was für Gründen auch immer nicht überlebt hatte. Es war eine Tragödie, die man Katies Unerfahrenheit und daraus resultierenden Unterlassungen zuschreiben mußte, keine vorsätzliche Tat. Eine passive Beteiligung am Tode des Neugeborenen – na schön, das war etwas, das ich verzeihen konnte.
Ich klopfte meine Shorts ab, verfluchte mich innerlich, weil ich nicht daran gedacht hatte, ein Blatt Papier und einen Stift mitzunehmen. Als erstes würde ich einen Pathologen kontaktieren müssen, der feststellen sollte, wie verläßlich der gerichtsmedizinische Bericht überhaupt war. Vielleicht könnte ich sogar einen Frauenarzt in den Zeugenstand rufen – es gab da jemanden, der mal in einem Prozeß als mein sachverständiger Zeuge wahre Wunder bewirkt hatte. Und schließlich würde ich Katie aufrufen müssen, die entsprechend verzweifelt über das Unglück wirken würde.
Was natürlich ihr Eingeständnis voraussetzte, daß es überhaupt geschehen war.
Ächzend rollte ich mich auf den Rücken und schloß die Augen vor der Sonne. Andererseits sollte ich vielleicht einfach die Offenlegung abwarten und dann weitersehen.
In einiger Entfernung hörte ich leises Rascheln und Bruchstücke eines Liedes, die der Wind zu mir trug. Ich stand auf und ging den Bach entlang. Der Gesang kam vom Teich her. »He« rief ich, als ich um die Biegung des Wasserlaufes kam. »Wer ist da?«
Ich sah kurz etwas Schwarzes, das im Maisfeld hinter dem Teich verschwand, bevor ich erkennen konnte, wer da entwischt war. Ich rannte bis an den Rand des Feldes, bog die hohen Halme mit den Händen auseinander und spähte hinein. Aber ich scheuchte nur ein paar Feldmäuse auf, die an meinen Turnschuhen vorbei in das Schilfrohr huschten, das den Teich säumte.
Ich zuckte die Achseln. Mir war ohnehin nicht nach Gesellschaft zumute. Ich wandte mich zurück zum Haus und blieb dann plötzlich stehen, weil mein Blick auf eine Handvoll Wiesenblumen fiel, die am Ufer lagen. Ein kleines Stück von den anmutig geschwungenen Ästen einer Weide entfernt lagen sie ordentlich zu einem Strauß gebunden auf dem Boden. Ich ging in die Hocke und strich über Margeriten, Frauenschuh und Sonnenhut. Dann schaute ich zurück zum Maisfeld und fragte mich, für wen sie wohl bestimmt
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