Die einzige Wahrheit
Tisch, der es zwar nicht für nötig hielt, sich vorzustellen, aber anscheinend wußte, wer ich war. Seinem Gesicht nach zu schließen, war er Aarons Vater, und ich vermutete, daß er in der kleinen Wohnung lebte, die hinten an das Haupthaus angebaut war. Er senkte den Kopf, was alle anderen veranlaßte, ebenfalls den Kopf zu senken, eine seltsame kinetische Reaktion, und begann, still zu beten. Verunsichert wartete ich, bis sie wieder aufsahen und anfingen, sich Essen auf ihre Teller zu häufen. Katie nahm den Milchkrug und goß sich ein wenig in ihr Glas; dann reichte sie ihn nach rechts weiter, zu mir.
Ich war keine große Milchtrinkerin, aber ich dachte mir, daß es nicht gerade ratsam war, das auf einer Milchfarm herumzuposaunen. Ich goß mir also etwas Milch ein und gab den Krug weiter an Aaron Fisher.
Die Fishers lachten und unterhielten sich in ihrer Sprache und füllten ihre Teller wieder, wenn sie leer waren. Schließlich lehnte Aaron Fisher sich zurück und rülpste laut. Bei diesem Verstoß gegen die Etikette machte ich große Augen, doch seine Frau strahlte ihn an, als hätte er ihr gerade ein wunderschönes Kompliment gemacht.
Plötzlich sah ich mich vor meinem inneren Auge über Monate Tag für Tag an diesem Tisch sitzen, stets in der Rolle der Außenseiterin. Ich merkte zunächst gar nicht, daß Aaron mich ansprach. Auf Pennsylvaniadeutsch.
»Habe ich richtig verstanden«, sagte ich langsam und deutlich und folgte dabei seinem Blick auf eine bestimmte Schale. »Sie möchten die Mixed Pickles?«
Sein Kinn zuckte kaum merklich in die Höhe. »Ja«, sagte er.
Ich legte beide Hände flach auf den Tisch. »In Zukunft würde ich es vorziehen, wenn Sie mich in meiner Sprache ansprechen würden, Mr. Fisher.«
»Am Tisch sprechen wir nur unsere«, erklärte Katie.
Mein Blick ruhte unverwandt auf Aaron Fishers Gesicht. »Ab heute nicht mehr«, sagte ich.
Um neun Uhr abends war ich kurz davor, die Wände hochzugehen. Ich konnte nicht einfach losfahren und ein Video ausleihen, und selbst wenn, es gab in diesem Haus keinen Fernseher und keinen Videorecorder. Das Bücherregal enthielt, wie sich herausstellte, nur Bücher auf Pennsylvaniadeutsch. Endlich entdeckte ich eine mir verständliche Zeitung und machte es mir bequem, um etwas über Pferdeauktionen und Dreschmaschinen zu lesen.
Die Fishers kamen nacheinander in den Raum, als hätte eine lautlose Glocke sie gerufen. Sie nahmen Platz und neigten die Köpfe. Aaron begann, laut aus der Bibel zu lesen.
Ich war nicht sonderlich religiös, war es nie gewesen, und nun war ich unversehens in einer Familie gelandet, deren Leben auf dem Christentum aufgebaut war. Ich starrte auf die Zeitung, bis mir die Buchstaben vor den Augen verschwammen, und versuchte, mich nicht wie eine Heidin zu fühlen.
Kaum zwei Minuten später stand Katie auf und kam zu mir herüber. »Ich gehe jetzt ins Bett«, verkündete sie.
Ich legte die Zeitung weg. »Dann komme ich mit.«
Als ich in meinem Seidenpyjama aus dem Bad kam, saß Katie in einem langen weißen Nachthemd auf ihrem Bett und kämmte sich das Haar aus. Es fiel ihr fast bis zur Taille und wellte sich bei jedem Bürstenstrich. Ich setzte mich im Schneidersitz auf mein Bett und stützte das Kinn in die Hände. »Früher hat das meine Mutter bei mir gemacht.«
»Wirklich?« sagte Katie und sah mich an.
»Ja. Jeden Abend hat sie meine Haare durchgekämmt. Ich hab’s gehaßt. Für mich war das eine richtige Folter.« Ich berührte meinen Kurzhaarschnitt. »Wie du siehst, hab ich mich gerächt.«
Katie lächelte. »Wir können uns das nicht aussuchen. Wir schneiden unsere Haare nicht.«
»Nie?«
»Nie.«
Zugegeben, sie hatte wunderschönes Haar, aber was, wenn sie, wie ich, jeden Tag ihres Lebens mit Knoten im Haar zu kämpfen hätte? »Und wenn du wolltest?«
»Warum sollte ich? Dann wäre ich anders als alle anderen.«
Katie machte dem Gespräch deutlich ein Ende, indem sie die Bürste weglegte und ins Bett kroch. Sie beugte sich vor und löschte die Gaslampe, womit das Zimmer in pechschwarzer Nacht versank.
»Ellie?«
»Hm?«
»Wie ist es da, wo du wohnst?«
Ich überlegte einen Moment. »Laut. Es gibt mehr Autos, und du hast das Gefühl, als würden sie die ganze Nacht hindurch genau vor deinem Fenster hupen und mit quietschenden Bremsen halten. Es gibt auch mehr Menschen – und ich hätte große Mühe, eine Kuh oder ein Huhn zu finden. Aber ich lebe eigentlich nicht mehr in Philadelphia. Im Augenblick
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