Die einzige Wahrheit
hier. Ich wollte mich vergewissern, daß wir uns auch wirklich in alle Richtungen abgesichert haben, bevor ich loslege.«
Lizzie zuckte die Achseln. »Aus dem Bruder habe ich absolut nichts rausbekommen, aber ich kann ihn mir ja noch mal vornehmen. Die Beweise sind erdrückend. Das einzige, was fehlt, ist der Samenspender, aber selbst der ist eigentlich unerheblich, da wir ihr so oder so ein Motiv unterstellen können.
Wenn er ein Amischer ist, hat sie das Kind getötet, um es sich nicht mit ihrem großen blonden Freund zu verscherzen. Wenn er nicht aus ihrer Gemeinde stammt, hat sie das Kind getötet, um ihr Verhältnis mit einem Außenseiter zu vertuschen.«
»Wir haben uns ziemlich schnell auf Katie Fisher als Hauptverdächtige festgelegt«, überlegte George. »Hoffentlich haben wir nichts übersehen.«
»Sie hat geblutet wie ein abgestochenes Schwein. Deshalb haben wir uns auf sie festgelegt«, sagte Lizzie. »Sie hat dieses Kind zur Welt gebracht, und es war zwei Monate zu früh – wer hätte also sonst noch wissen können, daß es soweit war? Wir wissen, daß sie es vor ihren Eltern geheimgehalten hat, also fallen die schon mal flach. Sie hat es mit Sicherheit auch nicht Samuel erzählt, weil es nicht sein Kind war. Selbst wenn sie ihrem Bruder oder ihrer Tante hätte sagen wollen, daß die Wehen eingesetzt hatten, hätte sie um zwei Uhr morgens wohl kaum ihr Handy zücken können.«
»Die Geburt können wir ihr hundertprozentig nachweisen, aber nicht den Mord.«
»Motiv und die Gesetze der Logik sprechen für uns. Du weißt, daß neunzig Prozent aller Morde von jemandem begangen werden, der eine persönliche Beziehung zum Opfer hat. Ist dir klar, daß diese Zahl auf nahezu hundert Prozent ansteigt, wenn das Opfer ein Neugeborenes ist?«
George blieb stehen und lachte sie an. »Willst du als zweiter Staatsanwalt auftreten, Lizzie?«
»Interessenkonflikt. Ich bin schon Zeugin der Anklage.«
»Ach, so ein Pech, ich glaube nämlich, daß du die Geschworenen im Alleingang von Katie Fishers Schuld überzeugen könntest.«
Lizzie grinste zu ihm hoch. »Da hast du recht«, sagte sie. »Aber alles, was ich kann, habe ich von dir gelernt.«
In den frühen Morgenstunden hatte eine der Kühe ein Junges zur Welt gebracht. Aaron war fast die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, um dem kleinen Wunder nachzuhelfen, das auf spindeldünnen Beinchen neben seiner Mutter schwankte.
Er begann, in der Box frisches Stroh zu verteilen, und dachte daran, daß er auch dieses Baby seiner Mutter wegnehmen würde. Er schob den Gedanken beiseite, als Katie den Stall betrat. Sie hielt ihm eine dampfende Tasse Kaffee hin. »Oh, ein Kälbchen«, sagte sie mit leuchtenden Augen. »Wie süß!«
Aaron konnte sich erinnern, daß seine Tochter fast jedesmal dabei gewesen war, wenn ein Kälbchen auf der Farm geboren wurde. Sie hatte die Kleinen schon mit der Flasche gefüttert, als sie selbst noch kaum größer war als ihre Schützlinge. Aaron erinnerte sich, wie er ihr gezeigt hatte, an welcher Stelle man einem Kalb gefahrlos den Finger ins Maul schieben konnte, weil da keine Zähne waren. Er erinnerte sich, wie er ihr erzählt hatte, daß sich eine Kälbchenzunge rauh wie Schmirgelpapier anfühlte und sehr kräftig war, wenn sie sich einem um den Finger wickelte und daran zog. Und er erinnerte sich an ihre großen Augen, als sie das erste Mal selbst die Erfahrung gemacht hatte.
Als Oberhaupt der Familie war es seine Aufgabe gewesen, seinen Kindern die amische Lebensart beizubringen – sie darin zu unterweisen, wie man sich Gott ganz hingab, wie man seinen Weg suchte zwischen dem, was richtig, und dem, was falsch war. Er sah, wie Katie in dem frischen Stroh kniete und den noch feuchten Rücken des Kälbchens streichelte. Es erinnerte ihn an das, was vor einigen Wochen geschehen war. Er schloß die Augen und wandte sich von ihr ab.
Katie stand langsam auf, und als sie sprach, war ihre Stimme so zittrig wie die Beine des neugeborenen Kälbchens. »Es ist fünf Tage her, seit ich vor der Gemeinde gekniet und gebeichtet habe. Willst du denn nie wieder mit mir sprechen, Dad?«
Aaron liebte seine Tochter. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als sie wieder auf den Schoß zu nehmen, so wie damals, als sie noch ganz klein gewesen war und die Welt für sie nicht größer als die Spannweite seiner Arme. Aber die Schuld für Katies Sünde und Schande lag bei ihm, weil er sie nicht verhindert hatte. Und jetzt war es auch seine Pflicht, die
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