Die einzige Wahrheit
nachhallten, drehte Ellie Coop den Rükken zu. Sie war vieles für Stephen gewesen – Mitbewohnerin, ein Gegenüber bei juristischen Fachsimpeleien, Sexualpartnerin – aber niemals der Mensch, mit dem er wirklich sein Leben teilte. Und gerade deshalb hatte sie sich niemals eingeengt gefühlt. Sie hatte sich nie so gefühlt wie zwanzig Jahre zuvor mit Coop. »So«, sagte sie mit bebender Stimme. »Das wolltest du doch hören, oder?« Irgendwie schaffte Ellie es bis zur Tür. »Bleib ruhig sitzen. Ich komm schon irgendwie nach Hause.«
Coop starrte sie an, starrte den Schmerz an, den ihr die frisch aufgebrochene Wunde offensichtlich bereitete, und rührte sich nicht, noch lange nachdem sie längst fort war.
Einmal, bevor Samuel getauft worden war, hatte er ein Automobil gefahren. Einer seiner Freunde, Lefty King, hatte es gebraucht gekauft und hinter dem Tabakschuppen seines Vaters versteckt. Der alte Mann tat immer, wenn er es sah, so, als stünde es gar nicht da. Samuel hatte gestaunt, wie leicht sich der Wagen fahren ließ.
Heute abend mußte er an das Auto denken, während er Mary Esch in seiner Kutsche nach Hause fuhr. Der Mond war nur eine dünne Sichel und bot ihm Deckung für seine Pläne.
Störend bei Mary war, daß sie einfach nicht aufhörte zu reden. Er hatte sie eingeladen, mit ihm ein Eis essen zu gehen. Und Samuel fand, daß sie auch ganz hübsch war, mit ihrem Haar, so dunkel und glänzend wie ein frisch gepflügtes Feld, und dem kleinen, fein geschwungenen Mund. Aber der Grund, warum Samuel ausgerechnet sie ausgesucht hatte, war der, daß sie Katies beste Freundin war und er Katie so am nächsten sein konnte.
Mary sprach so schnell, daß sie erst nach einem Moment merkte, daß sie nicht mehr fuhren. »Warum hast du angehalten?« fragte sie. Samuel zuckte die Achseln. »Ich hab mir gedacht, es ist so ein schöner Abend.«
Sie sah ihn etwas befremdet an, und das mit gutem Grund. Der Himmel war eine dicke, wolkige Suppe, und das einzige bißchen Licht kam von dem winzigen Mondrest. »Samuel«, fragte sie, »brauchst du vielleicht jemanden zum Reden?«
Er spürte sein Herz anschwellen wie einen Blasebalg, als wollte es ihm aus der Brust platzen. Tu es jetzt, sagte er sich, oder du tust es nie. »Mary«, sagte er, und dann riß er sie in seine Arme und preßte seinen Mund fest auf ihren.
Sie war nicht Katie, das war sein einziger Gedanke. Sie schmeckte nicht nach Vanille, irgendwie paßte sie nicht in seine Arme, und als er noch fester drängte, schabten ihre Zähne aneinander. Er tastete nach ihrer Brust, spürte, daß sie Angst bekam und ihn zurückzustoßen versuchte, wurde aber den Gedanken nicht los, daß irgend jemand mindestens einmal das gleiche und noch mehr mit seiner Katie gemacht hatte.
»Samuel!« Mary riß sich mit aller Kraft von ihm los und wich in die äußerste Ecke der Kutsche zurück. »Was um alles in der Welt ist denn bloß in dich gefahren?«
Ihre Augen waren weit aufgerissen und blickten verstört. Großer Gott, hatte er ihr das angetan?
»Ich … ich … es tut mit leid …« Samuel krümmte sich vor Scham, die Arme auf die Brust gepreßt. »Ich wollte dich nicht …« Er vergrub das Gesicht in seinem Hemd und kämpfte gegen die Tränen an. Er war kein guter Christ, ganz und gar nicht. Nicht nur, daß er die arme Mary Esch überrumpelt hatte, nein, er konnte auch Katies Beichte nicht akzeptieren. Ihr vergeben? Er kam ja noch nicht mal über die nackten Tatsachen hinweg.
Marys Hand legte sich auf seine Schulter. »Samuel, komm, laß uns nach Hause fahren.« Er spürte das Wackeln der Kutsche, als sie heruntersprang, um den Platz mit ihm zu tauschen, damit sie lenken konnte.
Samuel wischte sich hastig über die Augen. »Es geht mir nicht gerade besonders gut«, gab er zu. »Was du nicht sagst«, erwiderte Mary mit einem kleinen Lächeln. Sie streckte den Arm aus und streichelte seine Hand. »Du wirst schon sehen«, sagte sie voller Mitgefühl. »Alles wird gut.«
Wie sich herausstellte, war Richter Phil Ledbetter eine Frau.
Ellie brauchte volle dreißig Sekunden, um diese Tatsache zu verarbeiten, als sie zusammen mit George Callahan im Richterzimmer saß, wo die Anhörung stattfand. Phil – oder Philomena, wie ihr Namensschild verkündete – war eine kleine Frau mit roter Dauerwelle, einem resoluten Zug um den Mund und einer etwas piepsigen Stimme. Ihr mächtiger Schreibtisch war übersät mit Fotos von ihren Kindern, die alle vier das gleiche rote Haar hatten.
Weitere Kostenlose Bücher