Die einzige Zeugin
konnte sie an irgendetwas schuld sein?
6
Ganz in der Nähe der Schule befand sich das Kindheitsmuseum. Lauren dachte, dass es sicher eine gute Adresse war, um sich für ihr Kunstprojekt Das spielende Kind inspirieren zu lassen. Sie hatten Mittagspause, und Julie schloss sich ihr an.
»Wir können nachher im Museumscafé etwas essen. Es soll ganz gut sein«, sagte Julie.
Das Gebäude war riesig. Als sie in die Eingangshalle kamen, wurde Laurens Blick von einem großen Puppenhaus angezogen, das hinter Glas stand. Sie lief darauf zu. Auf dem Schildchen darunter stand Amy Miles’ Haus, 1890 . Es war dreistöckig, in der Mitte verband eine Treppe die Etagen, rechts und links davon waren die Zimmer. Sie bemerkte das Badezimmer mit der weißen Badewanne und dem kupfernen Wasserkessel. Darunter befand sich ein Billardzimmer, auf der anderen Seite das Spielzimmer der Kinder. Ein kleiner Junge stand bei einem winzigen Schaukelpferd. Daneben stand ein Schreibtisch mit einer Buchstütze, auf der ein Buch mit winzigen Buchstaben lag. Sie neigte den Kopf, um zu sehen, ob sie irgendetwas lesen konnte. Sie konnte es nicht.
»Jetzt komm«, sagte Julie, »drinnen gibt es einen ganzen Bereich mit Puppenhäusern.«
Die Halle hatte die Größe eines Fußballfelds und war zwei oder drei Stockwerke hoch. Oben führte eine Galerie um den Raum herum. Sie gingen hinauf und fanden die Puppenhäuser, ungefähr zehn Stück, aus unterschiedlichen Epochen. Einige waren so groß wie das Haus in der Eingangshalle. Sie waren alle nach vorne hin offen und gaben den Blick auf die Inneneinrichtung frei. Die Möbel, das Dekor und die Figuren verwiesen auf die Zeit, aus der das Haus stammte.
Lauren hätte sie sich stundenlang anschauen können, doch sie fühlte Julies Ungeduld.
»Ich verhungere gleich!«
Sie gingen nach unten ins Café. Während Julie sich an der Theke anstellte, suchte Lauren einen freien Tisch. Dabei dachte sie an das Puppenhaus ihrer Mutter. Es war eine Antiquität und sie hatte nicht oft damit spielen dürfen. Man konnte die vordere Front öffnen und schließen, und es sah aus wie ein altmodisches Herrenhaus mit hohen Fenstern und einer breiten Flügeltür. Durch die Fenster konnte man die Möbel und Figuren sehen, die Tapeten und Teppiche, die Kamine, Schnitzereien und Wandgemälde. Wenn man damit spielen wollte, musste man an der Seite einen Hebel betätigen, damit die Hausfront sich öffnete. Dann konnte man die Figuren von Zimmer zu Zimmer bewegen, das Geschirr abräumen, die Stühle oder das Sofa zurechtrücken oder das Klavier umstellen.
Das durfte sie nur bei besonderen Anlässen. Laurens Mutter hatte das Puppenhaus von ihrer Mutter bekommen und sie hatte es mit ihrer Schwester Jessica geteilt. Wenn sie Lauren einmal damit spielen ließ, ermahnte sie sie immer wieder, vorsichtig zu sein. Sie sagte, eines Tages, wenn Jessica heiratete und selbst eine Familie hatte, würde sie das Puppenhaus bekommen. Denn das wäre gerecht. Ihre Mutter hatte es jahrelang gehabt, irgendwann sollte Jessica an der Reihe sein.
Jetzt stand es auf dem Dachboden in ihrem Haus in St. Agnes.
Julie kam mit zwei Ofenkartoffeln, Salat und Getränken zurück. Sie redeten über das Kunstprojekt. Lauren wollte auf jeden Fall etwas mit einem Puppenhaus machen. Die Frage war, wie sie es originell gestalten und gleichzeitig etwas Allgemeines über Kindheit aussagen konnte. Julie wollte etwas mit Lego und anderen Bausteinen machen. Dann wechselte Julie das Thema.
»Findest du, dass Ryan gut aussieht?«
Lauren seufzte und versuchte, sich Ryan Lassiter vor Augen zu rufen.
Julie ließ nicht locker. »Wie gut? Auf einer Skala von eins bis zehn?«
Sie überlegte angestrengt. Sie konnte sich so ungefähr sein Gesicht vorstellen, aber am auffälligsten an ihm fand sie seine steif gebügelten Jeans und seine schlabberigen Fußballtrikots.
»Sechs von zehn?«, sagte sie.
»Was? Ich finde acht!«
Julie redete weiter über Ryan und was sie an ihm mochte. Lauren störte das nicht. Es war leichtes Geplauder, lustig und albern und oft etwas unanständig. Es hatte keinen tieferen Sinn und keine unterschwellige Botschaft. Anders als ihre Gespräche mit Jessica zu Hause, die immer anstrengender wurden. Jessica musste immer wieder alle Einzelheiten ihrer Beziehung mit Donny und ihrer Trennung durchkauen. Sie brauchte andauernd Bestätigung. Wenn sie einmal nicht darüber redete, klagte sie über ihren Job oder über das Haus und jammerte, dass sie nicht in St.
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