Die einzige Zeugin
vollgestopfte Kleiderstange. Vor dem großen Fenster lagen Kissen auf dem Boden. Vor dem kleinen Fenster stand ein Schreibtisch mit einem Laptop. Der Bildschirmschoner zeigte die beiden Hunde, der eine saß aufrecht, der andere lag daneben, beide schauten in die Kamera und ihr honigfarbenes Fell verschmolz zu einer einzigen Fläche.
»Schön hier«, sagte sie und wurde plötzlich verlegen.
Er stand vor ihr und grinste sie an. Sie zog eine Haarsträhne aus ihrem Zopf und wickelte sie um den Finger.
»Ich mag das, wie du mit deinem Haar spielst. Das ist ein Abwehrmechanismus.«
Sie wollte widersprechen, doch bevor sie etwas sagen konnte, neigte er sich vor und küsste sie auf den Mund. Ihre Augen waren geöffnet, und sie war völlig überrascht, aber der Kuss dauerte nur wenige Sekunden, dann machte er einen Schritt zurück.
»Das wollte ich endlich erledigt haben«, sagte er.
Sie war verwirrt und legte ihre Finger an den Mund.
»Ich meine … ich wollte dich küssen. Ich wollte dich küssen, seit du mir vor die Füße gelaufen bist, aber das war nicht der richtige Augenblick. Du weißt schon …«
»… die Kartoffeln.«
»Genau. Dann wollte ich dich im Museum küssen, aber es war zu viel los.«
»Und du hättest gefeuert werden können.«
»Stimmt. Kunden küssen wird nicht gern gesehen …«
Er unterbrach sich und sah aus, als sei überlege er etwas.
»Und heute Abend«, sagte er, »wollte ich dich so schnell wie möglich küssen, die Frage war nur, wann kommt der richtige Moment?«
»Und jetzt ist der richtige Moment?«
»Vor meinen Eltern ging es schlecht. Und ich konnte ja nicht über dich herfallen, als wir aus der Küche gegangen sind. Und auf der Treppe hätte es vielleicht etwas überstürzt gewirkt.«
Sie hatte Mühe, sich das Grinsen zu verkneifen.
»Als wir hier rauf kamen, wusste ich, dass ich es tun musste. Ich musste die Spannung zwischen uns brechen.«
»Ich fühle keine Spannung«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln.
»Ich schon.«
Er sah ihr gerade ins Gesicht und seine Arme hingen ungeschickt herab, als wüsste er nicht, was er mit ihnen tun sollte. Als sie nichts sagte, verschränkte er sie vor der Brust. Abwehrmechanismus , dachte sie. Sie hob eine Hand und strich ihm über die Wange. Dann ging sie noch näher, schloss die Augen und legte ganz leicht ihre Lippen auf seine. Nach einigen Sekunden drückte sie fester und öffnete den Mund. Sie fühlte, wie er sich erst verkrampfte, dann lockerer wurde, die Arme sinken ließ und sie um ihre Hüfte legte. Dann machte sie wieder einen kleinen Schritt zurück.
»Und jetzt?«, fragte sie. »Geht’s dir jetzt besser?«
»Viel besser«, sagte er. »Komm, wir schauen uns meine Fotos an.«
Sie setzte sich an seinen Schreibtisch. Er holte sich einen Klappstuhl und setzte sich neben sie. Er redete von seiner Digitalkamera und dem begrenzten Speicherplatz. Er hätte alle zehn Minuten ein Foto machen könnten, sagte er, in Australien gab es so viel zu sehen. Er sprach weiter und bewegte dabei die Maus. Der Bildschirmschoner verschwand, und sie sahen die Titelseite einer Zeitung.
Tod im Eigenheim. Doppelmord an Mutter und Kind in der Hazelwood Road. Siebenjährige überlebt Blutbad.
»Oh, das kann ich wohl schließen«, sagte Nathan.
Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie sah. Die Worte waren schockierend genug, doch in der Mitte der Seite war ein Foto ihrer Mutter. Das Bild einer lächelnden jungen Frau.
Nathan bewegte die Maus über den Bildschirm und schloss die Datei.
Sie schob ihren Stuhl zurück, um aufzustehen, doch ihre Augen klebten am Monitor. Er schaute sie an und sah verwirrt aus.
»Ich habe nur eine kleine Recherche gemacht«, sagte er. »Hat dich der Artikel erschreckt?«
»Mach ihn auf«, sagte sie.
»Nicht, wenn er dich beunruhigt.«
»Bitte«, sagte sie, »mach ihn noch einmal auf.«
Er klickte auf die Datei und der Zeitungsartikel erschien vor ihr. Sie starrte auf die Schlagzeile, den Text, das Foto ihrer Mutter. Darunter stand Grace Slater, 35, Mutter zweier Kinder. Sie fühlte, wie ihr Atem stockte. Sie sah in das hübsche Gesicht ihrer Mutter. Jessica sagte immer, Lauren sähe ihr ähnlich, sie hätte ihre Augen und ihren Mund, aber Lauren entdeckte die Ähnlichkeit nicht. Was sie sah, war eine ernste Frau mit einer eleganten Frisur und geschmackvollen Ohrringen.
»Ich mache ihn jetzt zu«, sagte Nathan, und der Artikel verschwand vom Bildschirm.
Sie stand auf. »Ich muss gehen«, sagte
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