Die einzige Zeugin
und stiller, als Lauren sie je erlebt hatte. In ihrer Brust klaffte eine tiefe Wunde.
Der einzige andere Mensch im Zimmer war ihr Vater, Robert Slater.
10
Jessica wollte zurück nach Cornwall. Sie hatte die Entscheidung innerhalb weniger Tage getroffen. Lauren versuchte gar nicht erst, sie umzustimmen. Seit Monaten, vor allem seit dem Nachmittag in Donnys Wohnung, war Jessica nicht mehr so fröhlich und energiegeladen gewesen. Fünf Tage lang redete sie nur noch davon. Sie könnten einfach ihre Sachen packen und gemeinsam zurückfahren. Sie könnten einen Transporter mieten. Es waren nicht viele Dinge im Haus, die ihnen gehörten, eigentlich nur Kleider und persönliche Gegenstände, Bettzeug und Wäsche. Sie könnten sich Sommerjobs suchen und vielleicht das Haus renovieren. Es würde nicht leicht sein, ohne Donny dort zu leben, aber ihre alten Freunde würden da sein und all die vertrauten Orte, die sie so gern hatten. Die Touristen würden nervig sein, aber immerhin könnten sie ein bisschen Geld verdienen. Sie würden gar keine Zeit haben, Trübsal zu blasen.
Jessica hüpften die Worte geradezu von der Zunge. Es war ein Fluchtplan. Ein Tunnel, der sie aus ihrem jetzigen düsteren Zustand herausführen sollte. Und vorher müssten sie sich unbedingt noch einen großen Katzenkorb für Kleopatra und die Kleinen besorgen. Die Katzen mussten schließlich mit. Sie gehörten zu Jessica und Lauren. Sie würden sich an ihr neues Zuhause gewöhnen. Die Stadtkatze, die vor Monaten beschlossen hatte, bei ihnen zu leben, würde sich anpassen und eine Meerkatze werden. Jessica sprach mit ihrer hohen Stimme mit den Katzen und erzählte ihnen alles über St. Agnes. Manchmal nahm sie eins der Kätzchen auf den Arm und ließ sie an ihrem Finger lecken. Bei dem Anblick bekam Lauren Gänsehaut. Katzen hatten Zungen wie Schmirgelpapier, und es war ihr immer unangenehm, wenn sie ihr über die Hand leckten. Sie sah Jessica zu, wie sie den Kätzchen Unsinn ins Ohr flüsterte, während die Mutter sie aus einer Ecke misstrauisch beobachtete.
Immer wieder betonte Jessica, dass sie ihre Abreise geheim halten müssten. Ich will nicht, dass Donny es erfährt. Er soll hier vorbeikommen und feststellen, dass wir weg sind. Ich will, dass er geschockt ist.
Lauren stellte sich die Situation vor. Donny parkte sein Auto vor dem Haus, ließ seine neue Aktentasche auf dem Beifahrersitz liegen und ging zur Tür. Er würde höflich klingeln, aber da ihm niemand öffnete, würde er seinen eigenen Schlüssel benutzen und einfach hereinspazieren. Er würde Jessica rufen. Aber er würde keine Antwort bekommen. Nirgendwo Licht, kein Duft nach Kaffee oder Tee oder Waschmittel, kein Geräusch vom Fernseher oder dem Radio im Badezimmer, kein Anzeichen, dass hier jemand lebte.
Würde Donny ihre Abwesenheit als Verlust empfinden? Würden seine Schritte durch das leere Haus hallen, würde ihn jedes Zimmer ausdruckslos anstarren?
Dazu würde es aber gar nicht kommen. Das Haus würde nicht leer sein. Wie Lauren Jessica erklärt hatte, konnte sie selbst noch nicht mitkommen. Sie hatte innerhalb des Schuljahres schon einmal das College gewechselt und würde abwarten müssen, bis sie ihre Prüfungen hinter sich gebracht hatte. Dann könnte sie nachkommen und ihr letztes Jahr in Cornwall absolvieren.
Aber Jessica wollte nicht noch drei Wochen warten. Es schien, als könnte sie nicht einmal drei Tage warten.
Jessica musste sofort fahren, allein. Lauren erklärte es ihr vorsichtig, immer und immer wieder. Sie würde alleine im Haus bleiben und ihr Schuljahr abschließen. Sie steckte mitten in der Vorbereitung ihrer Abschlussprüfung in Kunst, die insgesamt acht Stunden dauern würde. Überall in ihrem Zimmer lagen Skizzen von Puppenhäusern und Ausschnitte von Figuren, Möbeln und Stoffen herum, die sie für ihr Projekt gesammelt hatte. Außerdem standen noch die Aufführung ihrer Theatergruppe und die Geschichtsklausur bevor.
Jessica war besorgt. Wie sollte sie Lauren hier ganz allein lassen? Welcher verantwortungsbewusste Erwachsene würde das tun? Aber diese Einwände hatten nichts zu bedeuten. Jessica wusste sehr gut, dass Lauren sich in den vergangenen Wochen um sie gekümmert hatte, nicht umgekehrt.
Ich bin alt genug, hatte Lauren ihr immer wieder gesagt. Ich schreibe dir, ich rufe dich jeden Tag an. Lass mich meine Prüfungen machen. Die drei Wochen werden so schnell vorbeigehen. Und dann bin ich auch schon bei dir in St. Agnes.
Schließlich war es
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