Die einzige Zeugin
beschlossene Sache. Jessica würde einen Transporter mieten und den Großteil ihrer Sachen mit nach Cornwall nehmen. Lauren würde noch drei Wochen im Haus bleiben, bis sie ihre Prüfungen hinter sich gebracht hatte. Dann würde sie nachkommen.
Als Lauren am Donnerstag aus der Schule kam, sah sie Nathan auf der anderen Straßenseite stehen. Sie blieb stehen und hob die Hand.
Sie hatte den ganzen Nachmittag über Theaterproben gehabt, jetzt brummte ihr der Kopf. Sie war überrascht, ihn zu sehen, und musste lächeln. Darunter lag jedoch noch immer ein unbehagliches Gefühl bei dem Gedanken an den Zeitungsartikel auf seinem Laptop.
Sie bahnte sich einen Weg durch den Verkehr und stand kurz darauf vor ihm.
»Woher weißt du, wo ich zur Schule gehe?«
»Es gibt nur ein College hier in der Nähe. Dazu muss man nicht Sherlock Holmes sein.« Er lächelte nur ganz leicht.
»Was machst du hier?«
»Ich wollte mit dir reden. Wegen letzter Woche. Ich will dir etwas sagen. Mein Auto steht gleich um die Ecke. Wenn du willst, bringe ich dich nach Hause.«
»Mach dir keine Sorgen. Vergiss es einfach. Es war weiter nichts.«
»Ich kann es nicht vergessen. Ich weiß, wer du bist …«
»Was?« Sie lachte und hielt nervös Ausschau nach Julie.
»Ich weiß, was dir und deiner Familie passiert ist. Ich weiß, wer du bist.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Lauren Ashe«, sagte er leise, »aus Cornwall. Du hast früher in unserem Haus gewohnt. Vor zehn Jahren …«
Sie seufzte. Sie spürte, wie ihre Kopfschmerzen stärker wurden.
»Ich vermute, du hast im Internet recherchiert«, sagte sie und rieb sich die Schläfen.
»Nein. Meine Mutter hat mit unserer Nachbarin gesprochen. Sie sagte ihr, neulich sei ein Mädchen da gewesen, das früher in dem Haus gewohnt hat.«
»Oh«, sagte sie.
Sie sah Molly vor sich. Die Zwillinge tauchten in ihrem Gedächtnis auf. Zwei zehnjährige Mädchen, die sich aufs Haar glichen.
»Komm, ich fahre dich nach Hause«, sagte er.
Sie stand einen Moment wie angewurzelt da und wusste nicht, was sie tun sollte. Einige Mädchen aus ihrer Klasse gingen an ihnen vorbei. Auf der anderen Seite der Straße meinte sie, inmitten der Schüler einen weißblonden Kopf zu sehen. Sie hatte absolut keine Lust, dass Julie sah, wie sie mit Nathan sprach. Vor allem gerade jetzt.
»Okay. Ich wohne in der Nähe vom Krankenhaus.«
Sie folgte ihm um die Ecke zu einem schwarzen Auto. Sie stieg auf den Beifahrersitz. Der Fußraum lag voller Müll, halbvolle Wasserflaschen aus Plastik, alte Zeitungen und ein paar leere Sandwich-Packungen.
»Oh, tut mir leid«, sagte Nathan, beugte sich herüber und verstaute einen Teil des Mülls hinter seinem Sitz. »Der Wagen ist eine Müllkippe.«
»Ist das dein Auto?«, fragte Lauren.
»Meine Mutter hat es mir überlassen. Wahrscheinlich gehe ich deshalb so schlecht damit um. Ein Akt der stillen Rebellion.«
Lauren verstaute ihre Füße zwischen den restlichen Flaschen. Er ließ den Motor an. Sofort ertönte laute Musik. Er stellte sie aus.
»Ich wollte mich wegen letzter Woche entschuldigen. Es tut mir leid, dass du das auf meinem Rechner gesehen hast. Wenn ich gewusst hätte …«
»Es ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Woher solltest du das wissen? Du musst dich nicht entschuldigen!«
Ihre Stimme klang leicht und fröhlich. So fühlte sie sich aber ganz und gar nicht. Sie hielten an mehreren Ampeln, und Wellen von Schulkindern in schwarzen Uniformen schwappten vorüber. Sie wartete ungeduldig darauf, dass sie die Straße überquert hatten. Als sie wieder Grün hatten, mussten sie immer noch auf die letzten Nachzügler warten.
»Hast du dir deshalb das Haus angeschaut? An dem Abend, als ich dich das erste Mal gesehen habe?« Seine Stimme klang vorsichtig.
»Nein!«, sagte sie. »Warum glaubst du mir nicht? Ich habe auf jemanden gewartet!«
Es war alles so kompliziert. Keiner ihrer Freunde hatte jemals von ihrer Familie erfahren. Sie kannten sie nur als Lauren Ashe, die bei ihrer Tante und deren Freund wohnte. Sie nahmen die Geschichte einfach hin, dass ihre Mutter und ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Das war alles.
»Ich habe mit meinen Eltern darüber gesprochen. Ich hoffe, das war in Ordnung.«
Sie zuckte die Schultern. In ihr stieg Ärger auf. Sein Vater und seine Mutter wussten Bescheid. Wie vielen Leuten wollte er es noch erzählen?
»Meine Mutter hat gesagt, dass du jederzeit sehr gerne vorbeikommen kannst. Um dir das Haus
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