Die einzige Zeugin
Sie konnte sich nur sehr verschwommen ins Gedächtnis rufen, wie es früher einmal gewesen war. Sie hatten weiße Küchenschränke gehabt, das wusste sie noch, und einen Kühlschrank mit einem Eisfach darunter. Die Gardinen waren kariert gewesen. Rot-weiß. Nathan reichte ihr ein Glas Wasser mit Eiswürfeln und einer Zitronenspalte. »Die Küche ist schön geworden«, sagte sie.
»Das ist der einzige fertige Raum. Ich habe Toni gesagt, es ist mir egal, wenn der Rest des Hauses eine Baustelle ist – aber ich brauche meine Küche!«
Nathan fand offenbar, dass sie sich lange genug mit seiner Mutter unterhalten hatte. Er legte Lauren die Hand auf die Schulter und steuerte sie aus der Küche. Die Hunde folgten ihnen in den Flur. Lauren hatte noch immer ihr Glas in der Hand. Sie stand an der Haustür und trank es schnell aus, die kalte Flüssigkeit rann ihr durch den Hals. Nathan setzte einen Fuß auf die unterste Treppenstufe.
»Komm doch noch für eine Stunde mit hoch. Du kannst dich ein bisschen ausruhen. Ich habe die Fotos von meiner Reise auf meinem Laptop …«
»Ich glaube, ich gehe jetzt besser«, sagte sie.
»Es ist doch noch früh. Komm, nur eine halbe Stunde?«
Er ging ein paar Stufen nach oben. Sie streckte die Hand mit dem leeren Glas aus. Sie wusste nicht, wohin damit. Dann stellte sie es auf das Tischchen im Flur und schaute zur Tür. Mit zwei Schritten könnte sie draußen sein. In wenigen Minuten wäre sie am anderen Ende der Straße bei ihrer Bushaltestelle. Sie hatte gesehen, wie es im Haus aussah. Warum sollte sie noch länger bleiben?
»Mein Zimmer ist unterm Dach. Von da oben kann man meilenweit sehen. Na ja, eine halbe Meile vielleicht. Für die Aussicht könnte ich sogar Eintritt nehmen.«
Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln.
»Zehn Minuten?«
Sie zögerte. Sie konnte ihm folgen, oder sie konnte umdrehen und gehen. Es war ihre Entscheidung.
»Komm«, sagte er leise.
Sie ging zur Treppe.
9
Sie folgte Nathan. Dabei wurde sie immer langsamer. Als er schon oben war, war sie noch auf halber Strecke. Der Fußboden im ersten Stock sah merkwürdig aus. Die eine Hälfte bestand aus Dielen, die andere Hälfte aus Teppich. An der Grenze sah man an Wänden, Decke und Boden die Überreste einer Wand, mit der die Wohnung im mittleren Stockwerk geteilt worden war. Man hatte sie wieder eingerissen, doch ihre Gegenwart war noch spürbar. Sie ging weiter und vermied es, die Tür anzusehen, die früher die Schlafzimmertür ihrer Eltern gewesen war. Sie fühlte sich orientierungslos. Es kam ihr nicht so vor, als wäre sie in ihrem alten Haus. Andererseits wusste sie auch nicht, wie sie sich stattdessen hätte fühlen sollen. Ihre Erinnerungen an dieses Haus waren die eines siebenjährigen Mädchens.
Damals hatte sie viel Zeit im Schlafzimmer ihrer Eltern verbracht. Sie erinnerte sich an das seidenweiche Bett und die großen Möbel, einen Kleiderschrank und eine Kommode, die fast die gesamte Wand einnahmen. Und an das Puppenhaus, das für sie immer der Mittelpunkt des Zimmers gewesen war. Wenn sie hereinkam, schaute sie es immer sehnsüchtig an und ihre Finger zuckten vor Lust, damit zu spielen. Ihr eigenes Zimmer war viel kleiner, es hatte rosa Wände und eine Bordüre mit bunten Luftballons. Auf dem Fußboden waren all ihre Habseligkeiten verteilt: ihre Kuscheltiere, ihr Kinderschreibtisch mit Stuhl, ihre Bücher und Spiele. In einer Ecke war ihr eigenes Puppenhaus, das sie zu Weihnachten bekommen hatte. Es war aus einfachem, dünnem Holz und hatte nur vier Zimmer mit billigen Möbeln darin. Die Figuren sahen aus wie Puppen, nicht wie echte Menschen.
Daisy schlief in ihrem Kinderbett im Schlafzimmer der Mutter.
»Kommst du?«
Sie hörte Nathans Stimme von der oberen Treppe und ging weiter. Dieser Teil des Hauses hatte sich nicht verändert. Die enge dunkle Treppe, die zum Dachboden führte, war noch genau wie früher. Nathan öffnete die Tür und helles Licht fiel auf die oberen Stufen. Die Vorderseite des Zimmers war unverändert geblieben. Ein kleines Fenster zeigte auf die Straße. Auf der anderen Seite war eine großzügige Dachgaube eingebaut worden, die den Blick auf den Himmel freigab.
»Wow!«, sagte sie, noch leicht außer Atem vom Aufstieg.
»Das musste einfach mein Zimmer werden«, sagte Nathan.
Als sie hier gewohnt hatte, war dies Jessicas Zimmer gewesen.
Sie schaute sich um. Auf der einen Seite standen ein schmales Bett und einige Bücherregale. Auf der anderen Seite war eine
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