Die Eisbärin (German Edition)
beliebige Klingel drücken, als das Flurlicht anging. Hastig drehte sie sich um und stolperte die Stufen hinunter. Sie war kaum auf dem Bürgersteig angelangt, als die Tür aufflog und zwei Kinder lachend an ihr vorbeisausten.
Gerade noch rechtzeitig schlüpfte sie durch die zufallende Tür in den Hausflur. Sofort stieg ihr ein modrig feuchter Geruch in die Nase. Der Boden war schmutzig, und in den Ecken verfingen sich dicke Staubfäden in riesigen Spinnweben. Unleserliche Schmierereien mit Sprühfarbe zierten die Wände.
Sabine nahm die Stufen zum Hochparterre. Jede Etage beherbergte insgesamt fünf Wohnungen. Eine der Treppe gegenüber und je zwei weitere in den links und rechts abgehenden Fluren. Fünf Namen hatten auch jeweils eine Reihe auf dem Klingelschild an der Eingangstür gebildet, erinnerte sie sich. Der Name Lüscher war in der vorletzten Reihe verzeichnet, und so ging sie davon aus, dass der Mann im fünften Stock wohnte.
Sie lief um den Aufzug in der Mitte des Treppenhauses herum und nahm die Treppe. Sie war froh, niemandem zu begegnen, obgleich sie wusste, dass sie ohnehin keinem Menschen aufgefallen wäre. In Häusern wie diesem kannten die Leute oft nicht einmal ihren direkten Nachbarn.
Mit erhöhtem Pulsschlag erreichte sie den fünften Stock. Das Licht wagte sie nicht einzuschalten. Zuerst überprüfte Sabine die Wohnung geradeaus, dann die beiden anderen im linken Arm des Flures. „Gerscher“ und „Özkan“. Blieben noch zwei. Die Turnschuhe, die sie mit Bedacht gewählt hatte, erlaubten ihr, sich geräuschlos zu bewegen.
Sie wechselte in den gegenüberliegenden Flur. Zunächst die rechte Wohnung. „Promirov“. Bliebe noch eine. Sie beugte sich vor, um besser lesen zu können. Volltreffer.
Hier hast du dich also versteckt, dachte sie. In einem dreckigen, dunklen Loch.
Sie konnte das leichte Zittern nicht unterdrücken und kämpfte gegen den aufkommenden Impuls an, einfach fortzulaufen. Verdammt, reiß dich zusammen! Hast du etwa vor, immer wieder das Opfer zu sein? Hast du immer noch Angst vor ihm? Willst du etwa abwarten, bis er Laura holt? Dieser Mann darf keine Macht mehr über dich haben. Ich werde mich nie wieder dafür verfluchen müssen, so unendlich hilflos zu sein. Ich werde nie wieder verfluchen, dass ich lebe.
Lautlos schlich sie noch dichter heran und presste ein Ohr gegen das Türblatt. Sie konnte gedämpfte Stimmen hören und tippte auf das Geplapper einer Talkshow. Sabine trat einen Schritt zurück und betrachtete das Türschloss. Es war kein Standardmechanismus. Das erkannte sie, da Markus in ihrem Haus auf den Einbau von Sicherheitsschlössern bestanden hatte. Sie war überzeugt, ein solches vor sich zu haben.
Plötzlich zerriss ein Schellen hinter der Tür die Stille. Sie spürte, wie ihr Herzschlag für einige Momente aussetzte, ehe sie wie von einem Fausthieb getroffen herumwirbelte und in den Hausflur stürzte. Sie flüchtete über den Treppenabsatz zum nächsthöheren Stockwerk, drückte sich an die Wand und erstarrte. Ihr Herz versuchte offenbar, die ausgesetzten Schläge auszugleichen, und hämmerte heftig gegen ihre Rippen.
Sie vernahm ein lautes Knacken, und das Licht im Flur ging an. Anschließend setzte ein Summen ein, und sie ahnte, dass jemand den Fahrstuhl benutzte. Das lange Geräusch der Aufzugsmotoren ließ vermuten, dass der Benutzer in eines der oberen Stockwerke fuhr. Als der Aufzug stoppte, spürte sie die Vibrationen der anhaltenden Kabine. Die Stahltür des Fahrstuhls ging auf und fiel scheppernd zurück in die Verankerung. Das Klappern von Absätzen hallte durch das Treppenhaus.
Irgendwo schräg unter ihr klopfte es. Kurz darauf vernahm sie seine Stimme: „Guten Abend, kommen Sie rein.“
Sabine war wie vom Donner gerührt. Die Stimme eines Menschen ist das Einzige, was sich über die Jahre nur wenig verändert. Es kam ihr vor, als hätte sie eine grauenvolle Zeitreise in die Vergangenheit unternommen, so unmittelbar kam sein Tonfall aus ihren Erinnerungen. Es war Herbert Lüscher, der soeben Besuch empfangen hatte, und Sabine war aufrichtig überrascht.
In den folgenden drei Minuten blieb sie stehen und zwang sich, tief und ruhig durchzuatmen. Es gelang ihr, sich zu beruhigen.
Schließlich wagte sie sich hinunter, schlich dicht an seiner Wohnungstür vorbei und lauschte erneut. Doch so angestrengt sie auch horchte, es drang nicht ein einziger Laut aus der Wohnung. Selbst der Fernseher schien ausgeschaltet.
Was zum Teufel geht dort
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