Die Eisbärin (German Edition)
sei er in sie eingedrungen, und ihre Freundin habe zuschauen müssen. Sie fragte mich, ob er der Teufel sei und was sie Schlimmes getan habe, dass er ihr das antut. Das arme Mädchen. Es muss bestialisch gewesen sein.“
Klein spürte sein Herz rasen. Der Atem ging flach und schnell. Die Worte des Pastors wirbelten in seinem Schädel, hart und scharfkantig wie gebrochenes Glas. Er fühlte sich wie ein Ritter in schwerer Rüstung, der in vollem Lauf seines Pferdes von der Lanze des Gegners getroffen wird, dann mit dem Rücken auf dem Boden liegt und unfähig ist zu handeln. Irgendwo in der Ferne hörte er Bergmanns belegte Stimme.
„Hat das Mädchen den Namen des Mannes verraten, der das getan hat?“
„Ja. Es war ihr Erdkundelehrer Herbert Lüscher. Und er hatte es nicht zum ersten Mal getan.“
Alle im Raum brauchten eine Pause, aber gleichzeitig war eine Atmosphäre der Erleichterung zu spüren. Paulsberg war dabei, die Last abzulegen, die er all die Jahre mit sich herumgeschleppt hatte, und die Ermittler kamen mit großen Schritten voran. Hier lag sie offen vor ihnen, die Verbindung der beiden Mordfälle Lüscher und Kohlmeyer.
Bergmann war die Erste, die die Worte wiederfand.
„Was Sie da sagen, Herr Paulsberg, ist eine schwere Anschuldigung. Wenn es zutrifft, hat Lüscher während seiner Zeit am Internat eine seiner Schülerinnen missbraucht. Möglicherweise mehrfach. Dies wird sich entscheidend auf unsere Ermittlungen auswirken. Ich muss Sie deshalb fragen, wer dieses Mädchen war.“
„Das weiß ich nicht“, sagte Paulsberg. „Ich habe den Vorhang nicht geöffnet, und ihre Stimme war leise und gedämpft, verfremdet von ihrer Angst und all den Tränen. Außerdem ist das ja gerade das Wesen der Beichte. Die Möglichkeit, sich nur vor Gott offenbaren zu können.“
„Es ging aber nicht um Diebstahl oder vergessene Hausaufgaben! Sie haben von einer Vergewaltigung erfahren! Es wäre Ihre Pflicht gewesen, zu handeln!“
Bergmann hatte jetzt ihre Emotionen nicht mehr im Griff. Klein betrachtete sie und wusste, dass es nicht Paulsbergs unterlassene Hilfe, sondern ihr glühender Hass auf Lüscher war, der sie beben ließ.
„Ich habe damals falsch gehandelt.“
Paulsberg unternahm nicht einmal den Versuch einer Verteidigung.
„Wie Sie sich denken können, war ich selbst völlig überfordert mit dieser Situation. Es war das erste und einzige Mal, dass mir das zu Ohren gekommen ist. Niemals zuvor und nie wieder danach gab es ähnliche Klagen oder Beschwerden.“
„Das heißt, Sie haben absolut nichts unternommen?“
„Ich habe eine Woche mit mir gehadert. Dann bin ich zu Alois gegangen. Wir haben bis tief in die Nacht geredet und beraten. Er wollte nicht, dass die Sache nach außen dringt, konnte es aber auch nicht einfach ignorieren. Er hat mir versprochen, sich der Angelegenheit anzunehmen. Drei Monate später ging Lüscher in den vorzeitigen Ruhestand. Angeblich eine ernsthafte Erkrankung. Alois und ich haben nie wieder darüber geredet.“
Es trat ein Moment betroffener Stille ein. Niemand wusste, was er sagen sollte. Pastor Paulsberg schien wieder in ein Gebet zu verfallen, und Klein erwachte nur langsam aus seiner Befangenheit.
Zehn Minuten später standen sie an der Haustür der Doppelhaushälfte. Der alte Mann hatte ihnen alles erzählt, was er wusste. Die Last des Schweigens war ihm genommen, mit den Vorwürfen und Selbstzweifeln würde er weiterleben müssen.
„Auf Wiedersehen“, sagte Paulsberg und gab den Polizisten die Hand. „Möge Gott Sie beschützen und uns Menschen unsere Sünden vergeben.“
Klein erwiderte den Händedruck und sah in Paulsbergs wässrige Augen.
„Weinheimer“, sagte er, „er war Ihr Freund, nicht wahr?“
„Ja.“
Klein nickte stumm.
„Er hat sich vergiftet. Zuerst seine kranke Frau, danach sich selbst.“
Er sah Tränen in die Augen des Pastors schießen. Dann drehte er sich um und ging.
Die Fahrt zum Präsidium verlief schweigend. Was sie erfahren hatten, belastete die beiden Ermittler sehr. Zuerst war Lüscher nur ein einsamer alter Mann gewesen, brutal getötet, in seiner eigenen Wohnung. Nach und nach hatten sie Dinge über ihn erfahren, die mindestens als anstößig zu bezeichnen waren. Jetzt war ein Element dazugekommen, das niederträchtig und in höchstem Maße verachtenswert war. Lüscher war ermordet worden, und sie mussten nach wie vor den Täter finden. Aber tief in ihrem Innern war eine Veränderung eingetreten. Etwas, das man
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