Die Eisbärin (German Edition)
völlig still und reglos.
„Nein“, sagte er nach kurzem Zögern. „Im Moment erinnere ich mich nicht. Wissen Sie, an der Schule war ich nicht, und meine Zeit am Internat war begrenzt.“
„Herr Weinheimer war offenbar anderer Meinung.“
Damit hatte Paulsberg nicht gerechnet. Mit offenem Mund starrte er auf seine Besucher, und Klein war überzeugt, eine Spur von Feindseligkeit in seinem Blick zu erkennen.
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Paulsberg harsch. „Warum haben Sie mit Alois über mich geredet?“
„Wir haben nicht über Sie geredet.“
Der Pastor schien verwirrt.
„Dann bleibt die Frage, wie Sie das eben gemeint haben.“
Klein überlegte eine Sekunde. Seine Vorgehensweise mochte drastisch sein, aber letztlich unterlag seine Feinfühligkeit dem Ärger über die Unehrlichkeit des alten Mannes. Er griff in die Jacke, holte den Umschlag heraus und warf ihn vor Paulsberg auf den Tisch.
„Möchten Sie ihn selbst lesen, oder glauben Sie mir, dass Herr Weinheimer mich zu Ihnen geschickt hat?“
Die Wirkung war nicht zu übersehen. Paulsberg sank noch tiefer in seinen Sessel und bekreuzigte sich. Klein fürchtete um die Informationen, die so wichtig für sie waren, und bemühte sich um Schadensbegrenzung.
„Keine Sorge, Herr Paulsberg. Alois Weinheimer hat Sie nicht belastet. Aber er hat deutlich gemacht, dass Sie in der Lage sind, uns zu helfen. Ich rate Ihnen dringend, keine weiteren Ausflüchte zu machen. Woher kennen Sie Herbert Lüscher, und was können Sie mir über ihn sagen?“
Wenn es überhaupt so etwas wie Kampfesmut bei Pastor Paulsberg gegeben hatte, so war er zerbrochen und lag in Scherben vor seinen Füßen. Er blickte zur Wand über der Wohnzimmertür, wo ein großes, edel geschnitztes Holzkreuz mit der leidenden Gestalt Jesu Christi hing. Klein sah, wie der Pastor seine Lippen zu einem stummen Gebet bewegte. Danach schien er verändert. Gefestigt und bereit für die Wahrheit.
„Ich kannte Herbert Lüscher“, sagte er unvermittelt. „Wir waren zwei gemeinsame Jahre am Internat. Ich hatte damals eine Stelle als Religionslehrer und Seelsorger. Vertrauenslehrer, würde man heute sagen. Alois und seine Frau kannte ich bereits vorher.“ Er lächelte traurig. „Ich habe die Trauung der beiden vorgenommen.“
Klein hörte aufmerksam zu. Er hatte jetzt keine Zweifel mehr an Paulsbergs Ehrlichkeit. Der alte Kirchenmann war ihm auf sonderbare Weise vertraut und sympathisch.
„Lüscher war ein unauffälliger, tugendhafter und stiller Mann. Ich habe nie viel mit ihm geredet. Über christliche Themen schon gar nicht. Ich glaube aber, er war kein religiöser Mensch. Dafür war er außerordentlich gut auf seinem fachlichen Gebiet, Erdkunde und Geschichte, wenn ich mich recht erinnere. Seinen fehlenden praktischen Bezug zur katholischen Kirche hat man aufgrund seiner Expertise in Kauf genommen. Immerhin war er getauft.“
Paulsberg machte eine kurze Pause, und Klein spürte, dass ihm das Folgende nicht mehr so leicht über die Lippen gehen würde.
„Dann gab es irgendwann ein Gerücht. Schreckliche Vorwürfe standen im Raum.“
„Was für Vorwürfe?“
Klein versuchte, ruhig zu bleiben, aber es gelang ihm nur mit äußerster Mühe. Er schielte zu Bergmann hinüber, und auch sie rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum.
„Es war an einem Sonntag, im Frühjahr 1991. Es bestand damals Beichtpflicht für alle Schüler des Internats. Einmal in der Woche. Es ging um Kleinigkeiten. Streitereien und Gehässigkeiten unter Mitschülern, Ungehorsam, das Übliche. Aber dann saß dieses Mädchen hinter dem Vorhang. Als ich sie fragte, ob sie etwas Böses getan habe, fing sie an zu weinen. Es waren fürchterliche Tränen, dazu diese grässlichen Laute. So etwas habe ich bis dahin noch nie erlebt. Der Kummer schien direkt aus ihrer Seele zu fließen.“
Paulsberg verstummte und faltete seine Hände.
„Was hat das Mädchen gebeichtet?“
„Es ging nicht um das, was sie getan hatte, sondern um das, was ihr angetan wurde. Sie sagte, einer der Lehrer sei in ihr Zimmer gekommen und habe …“
Offenbar fehlten Paulsberg die Worte. Der Ekel, den er empfand, stand ihm regelrecht ins Gesicht geschrieben.
„Es waren abscheuliche Dinge, unaussprechliche Dinge.“
„Wir wissen, dass es schwer ist für Sie. Aber wir müssen es genau wissen.“
„Sie sagte, er sei nachts in ihr Zimmer gekommen und habe sie ausgezogen. Dann habe er sie berührt, und sie habe ihn berühren müssen. Zum Schluss
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