Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Eisbärin (German Edition)

Die Eisbärin (German Edition)

Titel: Die Eisbärin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Gereon
Vom Netzwerk:
Jugendamtes. Zusätzlich wurde sie durch einen Kinderpsychologen betreut, der vorsichtig die ersten Fragen stellte.
    Markus Kleiber war nicht zu erreichen, obwohl die Maschine aus Dresden schon vor über zwei Stunden gelandet war.
    Da er ein Mitwisser sein könnte, würden Laschinsky, Hecking und Sperber ihn bei seiner Ankunft im Haus vernehmen. Inzwischen organisierten sie die systematische Durchsuchung des Anwesens.
    Die Pressestelle gab erste Informationen an die Öffentlichkeit.
    Als Klein an diesem Abend nach Hause kam, schwirrten noch immer tausend Fragen in seinem Kopf. Alles war so schnell gegangen. So einfach. Sabine verzichtete auf einen Anwalt, räumte sämtliche Tatvorwürfe ein und präsentierte Wissen, das nur der Täter haben konnte. Sie gab freiwillig eine Speichelprobe zum Abgleich der DNA-Spuren und zeigte sich in jeglicher Hinsicht kooperativ, ohne auch nur das Geringste für sich selbst herausschlagen zu wollen. Lediglich die Fragen nach ihrem Motiv stießen auf hartnäckiges Schweigen und blieben vorerst unbeantwortet.
    Klein wusste, dass die Aufarbeitung auch das Unvermeidliche mit sich bringen würde. Psychologen, Gutachter, Anwälte und Medienvertreter würden sich auf den Fall stürzen wie Wespen auf süße Limonade und jedes Detail beleuchten, jedes Steinchen der Geschichte umdrehen und das Entdeckte zu ihren jeweiligen Gunsten erbarmungslos ausschlachten.
    Klein war elend zumute, als er unter die Bettdecke kroch. Sein Gefühl sagte ihm, dass der Fall Sabine Kleiber noch einiges für sie bereithalten würde. Er spürte weiteres Unheil auf sie zukommen, wie eine dunkle Gewitterwolke am abendlichen Horizont eines sonnigen Tages. Es dauerte lange, bis er endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

Mittwoch, 01. Dezember, 10.45 Uhr
    Die Uhr sagte ihr, dass sie schon eineinhalb Stunden hier an der Pforte des Präsidiums stand und ausharrte, um endlich eingelassen zu werden. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie schon seit 22 Jahren genau hier hätte stehen müssen.
    Schuld ist ein relativer Begriff, dachte Julia. Lüscher hat uns damals eingeredet, selbst Schuld an dem zu tragen, was er uns antat. Ich habe es geglaubt und habe diese Last nie wieder ablegen können. Ist Sabine schuld an dem, was sie getan hat? Mein halbes Jurastudium habe ich mit dem Thema Schuld zugebracht und habe nie loslassen können. Ich wollte sehen, wie die Bestien für ihre Greueltaten bestraft werden. Ich wollte sehen, wie ein Opfer auch Opfer genannt und freigesprochen wird. Es war wie ein Sog, in den mich die Arbeit geführt hat, mein Leben der verzweifelte Versuch, Abstand zu bekommen, selbst klarzukommen.
    Heilung? Meine Wunden sind nicht einmal verschorft. Seit 22 Jahren habe ich niemanden mehr in mein Leben gelassen, nie wieder eine Berührung ertragen. Der Rausch der Arbeit, das hohe Tempo des Alltags, alles war nur eine trügerische Flucht.
    Nun bin ich wahrhaft schuldig geworden. Dafür gibt es keine Entschuldigung und keine psychologische Erklärung. Schon gar keine Wiedergutmachung. Mein Schweigen.
    Meine Flucht hatte einen hohen Preis. Für mich, die ich vor meinem Leben davongelaufen bin – und für Sabine, die sich dem Kampf gestellt und nun alles verloren hat. Warum habe ich sie nur damals im Stich gelassen? Warum habe ich nie wieder den Kontakt gesucht? Sie war meine einzige Freundin, die einzige, die mich wirklich versteht.
    Ein Schwindelgefühl erfasste Julia und zwang die junge Frau, sich auf einen der Stühle im Empfangsraum zu setzen. Als sie die Augen wieder öffnete, stand eine Beamtin vor ihr.
    „Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?“, fragte sie freundlich.
    Julia blickte hoch und hauchte: „Ich muss zu Klein“, und es klang wie aus einer fernen Welt.
    Der Tonfall ließ die Beamtin erschaudern, und sie bat die Kollegen am Empfang, noch einmal oben nachzufragen.
    Julia hatte indes das Gefühl, eine bleierne Einheit mit dem Stuhl zu bilden, auf den sie gesunken war. Wie hatte ihr Leben in so hoher Geschwindigkeit verlaufen können, ohne dass sie auch nur einmal erkannt hatte, was das Richtige gewesen wäre? Das Richtige – wie oft wusste niemand, was das war.
    Als sie bemerkte, wie die Beamtin am Empfang noch einmal den Telefonhörer in die Hand nahm und zu reden begann, spürte sie ihren Körper plötzlich wieder. Vielleicht war doch noch nicht alles zu spät. Vielleicht konnte sie wenigstens ein bisschen von dem wiedergutmachen, was sie versäumt hatte. Vielleicht gab es doch noch einen Weg, wie

Weitere Kostenlose Bücher