Die Eisbärin (German Edition)
Polizisten unterlag Überlegungen der Verhältnismäßigkeit und Menschlichkeit. Man wollte alles vermeiden, was den Kindern schaden könnte. Natürlich bestand die Gefahr, dass die Verdächtige das Haus entweder gar nicht oder nur in Begleitung der Mädchen verlassen würde, und dann hatten die Polizisten keine Wahl. Aber dieses Risiko waren sie eingegangen, und wie es aussah, gab der Erfolg ihnen recht. Klein drehte am Lautstärkeknopf.
„Zielperson verlässt das Haus. Der Hund wird mitgeführt.“
„Bewaffnung?“ Klein erkannte die Stimme des Kommandoführers.
„Nichts zu erkennen. Hände sind frei.“
Klein knuffte Bergmann in die Seite. Innerhalb weniger Sekunden war sie wach, und ihre volle Aufmerksamkeit war wiederhergestellt.
„Gehrichtung Garage. Langsames Tempo.“
„Team zwo bereit?“
Klein wusste, dass überall Zugriffsteams postiert waren. Eines vermutete er jetzt auf dem Dach der Garage.
„Zwo bereit.“
„Warten.“ Wieder die Stimme des Aufklärers. „Vorbei an Garage. Jetzt Richtung Straße. Erreicht Tor in drei, zwo, eins, jetzt.“
„Team drei bereit?“
„Drei bereit.“
„Tor wird geöffnet … jetzt.“
„Zugriff!“
Der Befehl des Kommandoführers schoss wie eine Kugel durch das Funkgerät.
Klein spürte eine Gänsehaut am ganzen Körper, und er wusste, dass nicht die Kälte der Grund dafür war.
***
Sabine trat aus der Haustür und hielt intuitiv die Leine etwas straffer. Nach dem Fressen war der morgendliche Spaziergang das größte Highlight in Brancas Tag, und normalerweise konnte die Hündin es kaum erwarten, ins Freie zu stürmen. Doch heute war es anders. Der Retriever war zurückhaltend und vorsichtig. Sabine erkannte die Anzeichen der Anspannung. Die aufgestellten Nackenhaare, die leicht erhobene Rute, der schleichende Gang und der starre, gesenkte Kopf. So verhielt sich das Tier sonst nur, wenn andere, unliebsame Artgenossen ihre Wege kreuzten.
„Was ist los?“ Sabine amüsierte sich über das sonderbare Verhalten und tätschelte beruhigend die Flanke der Hündin. Auf dem kurzen Weg zur Garage überlegte sie, ob sie den Wagen nehmen und die landschaftlich schönere Strecke an der Ruhr laufen sollte. Doch sie wollte die Kinder nicht zu lange allein lassen und entschloss sich für die kurze Hausrunde durch den Schellenberger Wald.
Sabine blickte in den stahlblauen Morgenhimmel. Kleine Wolken hingen dort wie angenagelt. Scharfkantig und unbeweglich, wie schwebende, weiße Felsen. Sie liebte solche Tage. Die klaren Konturen, die frische, kühle Luft, frei von Staub, Lärm und der flimmernden Hitze des Sommers. Ihr Verstand schien viel besser zu funktionieren. Sie fühlte sich frei und lebendig. Jeder Atemzug in die Tiefen ihrer Lunge gab ihr das Gefühl, den Tag in sich aufzusaugen. Dann sah sie die breite Wolkenfront aufziehen, ganz weit weg am südlichen Horizont. Sie dachte kurz an Markus, der in wenigen Stunden landen würde. Sie wusste um seine Flugangst, ein Unwetter würde die Sache noch erheblich verstärken. Dann öffnete Sabine das Tor und trat hinaus auf die Straße.
Die schwarzen Schatten nahm sie erst wahr, als es längst zu spät war. Sie wurde von etwas getroffen, dumpf und übermächtig wie eine stählerne Dampflok. Eine Explosion dröhnte in ihren Ohren, und ihre Füße verloren den Halt. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie schwerelos. Ihr Blick streifte die Vollkommenheit des Winterhimmels, und sie spürte die Wärme der Sonne auf ihrer Stirn. Dann knallte sie auf den Asphalt und spürte nichts weiter als Schmerz. Jemand drehte sie auf den Bauch, hebelte ihre Arme auf den Rücken und verbog ihre Handgelenke.
Branca war schneller gewesen als sie selbst. Sie hatte die Schatten eher gesehen und sich einem von ihnen in den Weg geworfen. Ihr Knurren war ebenso bösartig wie kurz gewesen. Das Aufjaulen der Hündin traf Sabine schlimmer als der eigene Schmerz, war beängstigender als der metallische Geschmack nach Blut in ihrem Mund. Mit letzter Kraft drehte sie den Kopf auf die Seite und entdeckte das Tier neben sich auf dem Boden, keine zwei Meter entfernt und doch unerreichbar. Branca lag bewegungslos auf der Seite, den Rücken zu ihr. Mein treuer Beschützer, kam es Sabine lautlos über die Lippen. Was haben sie dir angetan? Dann senkte sich Leere auf sie hinab und bedeckte sie wie ein wärmender Mantel. Sabine schloss die Augen und starrte ungläubig in das schwarze, unendliche Nichts.
***
Bergmann sprang aus dem Wagen und
Weitere Kostenlose Bücher