Die Eisbärin (German Edition)
bot ihm an, Sabine irgendwo in lockerer Atmosphäre auf einen Kaffee einzuladen, um selber mit ihr reden zu können. Auch ein Gespräch zu dritt zog sie in Erwägung, aber Markus wusste, dass das für Sabine niemals in Frage käme.
Am Ende verließ er ihre Wohnung dennoch etwas beruhigter, als er sie betreten hatte. Er würde Isabellas Rat befolgen und Sabines Verhalten genauer beobachten. Mit Zärtlichkeiten würde er warten, bis sie von Sabine aus kamen. Sollte sich bis zum Urlaub in vier Wochen keine Veränderung ergeben haben, würde er sich etwas überlegen müssen.
Er schrak aus seinen Gedanken, als die Maschine plötzlich ins Schaukeln geriet. Sie waren in die tiefe Wolkendecke eingetaucht, und das strahlende Weiß verwandelte sich augenblicklich in ein dunkles Grau, in dem er nicht einmal mehr das Ende der Tragfläche erkennen konnte. Das Schaukeln wurde stärker, und er spürte die angespannte Atmosphäre in der Kabine. Dann drangen endlich die ersten Lichter durch den Dunst, und die Maschine stabilisierte sich wieder. Markus erkannte die Umrisse von Feldern und Äckern, von kleinen Vororten und Straßen. Auf der Autobahn schien wieder einmal Stau zu herrschen, und die Autoschlange sah aus wie ein endloser Bandwurm, der sich gefräßig durch die Landschaft wand. Die Bäume und Häuser zogen so langsam vorüber, dass er sich wunderte, dass das Flugzeug nicht wie ein Stein vom Himmel fiel. Dann sah er die blinkenden Lampen und den dunklen Asphalt der Landebahn. Seine Finger klammerten sich krampfhaft um die Schnalle seines Beckengurts. Noch fünf, vier, drei, dann sackte die Maschine ein Stück herab, und er hörte das Quietschen der aufsetzenden Fahrwerksbereifung. Die Nase senkte sich, und der Pilot betätigte die Schubumkehr. Innerhalb weniger Sekunden bremste das Flugzeug auf eine Geschwindigkeit, die es ihm erlaubte, sich wieder zu entspannen.
Wenn man ihn ein weiteres Mal auf eine Vortragsreise schicken sollte, dachte er, würde er den Wagen nehmen.
Eine Viertelstunde später lief er durch die Gangway in Richtung des Flughafengebäudes. Er war kaum in der großen Gepäckhalle angekommen, als er die Menschen sah. Überall dort, wo ein Fernseher hing, standen Leute herum, gestikulierten aufgebracht mit den Händen oder standen mit geöffneten Mündern da. Beim Abflug in Dresden war ihm ein ähnliches Verhalten auch schon aufgefallen, aber er hatte sich nicht weiter darum gekümmert. Doch jetzt war auch seine Neugier geweckt. Er blickte sich um, entdeckte ein kleineres Gerät, an dem nicht so viel Betrieb herrschte, und trat näher heran. Es war ein Live-Bericht auf N-TV. Die junge Moderatorin kannte er nicht, aber der ernste Blick passte nicht zu ihrem jungen Gesicht. Der Ton war ausgeschaltet, doch Markus las die Nachricht auf dem Laufbanner am unteren Rand. Dann wechselte das Bild, und der Sender zeigte ein Haus.
„Unser Haus“, flüsterte er fassungslos und erntete einen ungläubigen Blick der Menschen neben ihm. Dann zeigte der Sender ein anderes Bild. Ein Gesicht. Markus entglitt die Tasche mit dem Laptop und seinen Unterlagen.
„Sabine“, flüsterte er und verharrte für ein paar Sekunden wie betäubt. Dann traf ihn die Information wie ein Hammerschlag. Er vergaß die Tasche auf dem Boden, vergaß den Koffer auf dem Rollband. Wie von Sinnen rannte er in Richtung Ausgang. Unterwegs versuchte er, sein Handy einzuschalten, doch es glitt ihm aus der Hand, landete hart auf dem Steinboden der Eingangshalle und rutschte unter einen Heizkörper. Fluchend bückte er sich und verfolgte, wie das Handy unerreichbar in eine Bodenritze fiel. Noch immer fluchend, eilte er hinüber zum Parkhaus.
Kurz darauf raste er vom Flughafengelände und nahm die Auffahrt zur A52 Richtung Essen mit quietschenden Reifen. Der Lastwagen kam bei der anschließenden Vollbremsung immer näher. Mit durchgestreckten Armen krallte Markus sich ins Lenkrad, wohl wissend, dass ihm ein Aufprall beide Schultern brechen würde. Einen halben Meter vom Stahlträger des Sattelzugs entfernt, kam er zum Stehen. Mit wild pochendem Herzen und keuchendem Atem stand Markus Kleiber im Stau.
Sonntag, 28. November, 15.10 Uhr
Am frühen Nachmittag dieses Sonntags waren die dringlichsten Schritte getan. Sabine Kleiber saß im Zellentrakt des Präsidiums und wartete auf die Anhörung vor dem Haftrichter. Nicole war an ihre sichtlich erschütterten Eltern übergeben worden, und Laura war in ständiger Begleitung zweier Mitarbeiterinnen des
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