Die Eisbärin (German Edition)
noch mit der Tatsache leben musste, dass ihre Mutter eine Mörderin war. Was hatte sie ihr nur angetan?
Plötzlich dachte Sabine zurück an jene Nacht, in der ihr eigenes junges Leben eine so dramatische Wende genommen hatte. Draußen auf der feuchten, laubbedeckten Straße waren nicht nur ihre Eltern ums Leben gekommen. Auch ein Teil von ihr selbst war damals gestorben, das hatte sie immer gespürt. Sie dachte an ihre Großmutter. Lotta war liebevoll und gutmütig gewesen. Sie hatte alles getan, um ihrer Enkeltochter ein gutes Leben zu ermöglichen. Das Geld aus dem Erbe reichte für die Ausbildung am exklusiven Schlossinternat. Die freien Wochenenden und Ferien verbrachte sie bei der Großmutter auf dem Dorf. Doch Lotta war alt. Und krank. Anfangs hielt sie ihr Leiden vor dem Kind geheim, aber mit der Zeit wurde sie immer schwächer, bis sie schließlich nicht mehr imstande war, für das Kind zu sorgen. Das Jugendamt hielt endgültig Einzug in ihr Leben, und keine vier Monate später hatte der Krebs ihre Großmutter besiegt. An die Tage und Wochen danach konnte sie sich nur dunkel erinnern, wie durch einen nebligen, dichten Schleier. Die schulfreien Tage verbrachte sie fortan in Einrichtungen der öffentlichen Erziehungshilfe. Ständig tauchten neue Gesichter auf. Fremde Menschen, die Anteilnahme heuchelten und vorgaben, Verantwortung für sie zu übernehmen. Doch mit jedem dieser neuen Gesichter wuchs ihre Einsamkeit.
Als sie gerade anfing, sich mit diesem Leben zu arrangieren, als sie damit begann, zaghafte Freundschaften mit Gleichaltrigen zu knüpfen und neuen Lebensmut zu fassen, kam Herbert Lüscher das erste Mal in ihr Zimmer und veränderte alles. Als er in dieser Nacht die Tür hinter sich zuzog und Sabine blutend und weinend zurückließ, war der Rest ihrer Kindheit, der den Tod ihrer Eltern überlebt hatte, endgültig und unwiederbringlich begraben. Es gab niemanden mehr, zu dem sie gehen konnte. Niemanden, der sie verstand. Bis auf Julia. Sabine versuchte, sich das Gesicht ihrer alten Freundin ins Gedächtnis zu rufen, aber es war zu lange her. Nicht mal ein knappes Jahr hatten sie sich das Zimmer geteilt, bevor Julia eines Tages spurlos verschwand und Sabine endgültig allein und schutzlos war. Allein und schutzlos, dachte sie traurig. Genau das hatte sie ihrer Tochter ersparen wollen. Aber sie hatte versagt und würde es nie wieder gutmachen können. Es tut mir leid, Laura.
Sabine saß vollkommen reglos. So lange, bis sich ihr Körper aufzulösen schien und mit der stickigen Gefängnisluft verschmolz. Wenn ich hierbleibe, bin ich jetzt schon tot, dachte sie und senkte den Blick auf ihren Schoß. Die Finger spielten mit dem Seil. Sie hatte das Bettlaken in Streifen gerissen und die Stücke zu einer Kordel gedreht. Ich bin schon tot. Dann traf sie die Entscheidung, die Augen geschlossen zu einem kurzen, stillen Gebet. Angst kroch in ihren Körper, aber es gab kein Zurück. Sabine stand mechanisch auf, kletterte auf den kleinen Hocker und befestigte die Kordel am Fenstergriff. Das andere Ende band sie zu einer Schlaufe, überprüfte, dass es fest verknotet war, und legte das Seil um den Hals. Auf Zehenspitzen zog sie so lange am losen Ende, bis sie den Druck des Knotens in ihrem Nacken spürte. Ein letztes Mal dachte sie an Laura und ihre kleine Familie. Sie würden sich in einer anderen Welt wiedersehen. Glücklich und für alle Zeiten vereint. Dann stieß sie sich mit einem Ruck nach vorn und spürte das Zubeißen der Schlaufe wie einen elektrischen Schlag. Das Geräusch des umfallenden Hockers war das Letzte, was sie hörte. Einen Moment lang kämpfte sie mit der panischen Angst. Dann ließ sie los und ergab sich in das, was Gott für sie bereithielt. Sie spürte, dass es gut war.
Montag, 06. Dezember, 10.40 Uhr
Klein stützte den Kopf in beide Hände und betrachtete den dicken Packen mit Untersuchungsberichten vor ihm auf dem Schreibtisch. Unter formalen Gesichtspunkten war dieser Fall ein riesiger Erfolg. In kaum einer anderen Ermittlung seiner Karriere hatte es trotz der anfänglichen Schwierigkeiten derart viele Indizien und klare Beweise gegeben wie in dieser. Nicht nur, dass man die Königin aller Beweise hatte: die DNA der Täterin unter dem Fingernagel des Opfers. Nein, es gab eine ganze Reihe weiterer signifikanter Übereinstimmungen, die jedem Strafverteidiger Tränen der Verzweiflung in die Augen getrieben hätten: Die Schuhgröße. Das zu den gesicherten Spuren auf dem Parkplatz
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