Die Eisbärin (German Edition)
ihr eigener Beruf zu ihrer Erlösung beitragen konnte.
Mittwoch, 01. Dezember, 11.05 Uhr
Günther Klein verfluchte die leeren Batterien der Fernbedienung, stand auf und brachte den Fernseher zum Schweigen, indem er das Kabel aus der Steckdose riss. Es war noch schlimmer gekommen, als er befürchtet hatte. Kaum ein Sender, der nicht voll war mit Berichten, Hintergründen und Mutmaßungen zum Fall Sabine Kleiber. Die Rächerin von der Ruhr, wie die Boulevardpresse in gewohnt einfallsloser und reißerischer Manier titelte, polarisierte die Menschen wie kaum eine Kriminelle zuvor. Während die einen das brutale Vorgehen scharf verurteilten, feierten sie andere als Heldin, als menschliches Symbol für Mut, Stärke und Gerechtigkeit, als Kampfansage an ein Justizsystem, das in den Augen vieler Menschen zu lasch und täterfreundlich war. In den politischen Talkshows erwachten die Diskussionen um härtere Strafen für Sexualtäter und das Instrument der Sicherungsverwahrung zu neuem Leben.
Auch Klein selbst war von dem gewaltigen Echo des öffentlichen Interesses betroffen. Mehrmals am Tag musste er sein elektronisches Postfach leeren, da ihn eine Flut von Anfragen und Einladungen zu Interviews erreichte. Klein wollte das alles nicht und verließ sein Büro so selten wie möglich. Seit dem Vortag arbeitete er an dem Abschlussbericht der Ermittlungen, der auch die jüngsten Ergebnisse seiner Kollegen mit einbezog. Laschinskys Leute hatten einen Mantel mit Fuchspelzeinsatz in Sabines Kleiderschrank gefunden, und obwohl der Kamin gereinigt worden war, hatten sie noch Reste von schwarzer Kunstfaserbekleidung entdeckt. Sperber war es sogar gelungen, winzige Spuren von Blut in der feinen Holzgriffmaserung des Messers zu sichern. Jennifer Bergmann nahm sich der kleinen Laura an, soweit es die Umstände erlaubten. Das Mädchen war vorerst zu den Großeltern väterlicherseits gezogen, wo sie Bergmann täglich besuchte. Markus Kleiber war derzeit nicht in der Lage, sich um seine Tochter zu kümmern. Als er von Hecking befragt und über die Taten seiner Ehefrau unterrichtet worden war, war er zusammengebrochen und befand sich seitdem in ärztlicher Behandlung.
Klein dachte einmal mehr an Sabine. Er hatte sie am Vortag in der JVA Gelsenkirchen besucht, wo sie in Untersuchungshaft saß. Es war ein kurzer Besuch gewesen, denn sie weigerte sich weiterhin, über ihre Beweggründe zu sprechen. Überhaupt hatte sie den Kontakt zu anderen Menschen abgebrochen. Seit Montag war es niemandem mehr gelungen, mit ihr zu reden. Lediglich nach Laura fragte sie unaufhörlich. Ihre ganzen Gedanken schienen einzig dem Wohlergehen ihrer Tochter zu gelten.
Klein schob die Tastatur von sich weg und rollte mit dem Bürostuhl ans Fenster. Er dachte an seine eigenen Kinder und beschloss, beide an Heiligabend zu sich einzuladen. Er durfte nicht zulassen, dass sie ihm mehr und mehr entglitten. Sie waren seine Familie. Seine einzige.
Er stand auf und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Auf dem Flur stieß er beinahe mit Christa zusammen.
„Günther, da ist jemand für dich.“
„In Ordnung, stell ihn durch.“
„Nicht am Telefon. Sie ist unten an der Anmeldung.“
„Eine Frau? Was will sie denn?“
„Ich weiß es nicht. Die Kollegen sagen, sie sei Anwältin.“
Klein schnaufte verächtlich. Wütend betrat er die Küche, nahm einen Becher und knallte die Schranktür zu. „Diese verdammten Blutegel werden immer dreister! Schick sie weg und sag ihr, sie soll sich zum Teufel scheren.“
Christa legte ihm sanft eine Hand auf den Arm. „Offenbar ist sie sehr beharrlich. Ist extra aus München gekommen. Vielleicht kannst du kurz mit ihr reden. Rauswerfen kannst du sie immer noch.“
Klein drehte sich um und betrachtete Christa eine Weile. Das freundliche Gesicht der kleinen Frau ließ seinen Ärger verrauchen.
„Meinetwegen“, sagte er. „Schick sie hoch.“
Er saß bereits wieder an seinem Bericht, als es fünf Minuten später an der Tür klopfte.
„Herein“, rief er und achtete darauf, seiner Stimme eine Mischung aus Geschäftigkeit und Ablehnung zu verleihen. Er sah erst auf, als die Frau vor seinem Schreibtisch stand.
Klein schätzte sie auf Mitte 30, ihr blondes Haar war kurzgeschnitten und passte gut zu dem dunkelgrauen Hosenanzug. Die Handtasche war aus Leder und edel gefertigt, genau wie die schwarzen Halbschuhe.
„Was wollen Sie hier?“
Kleins guter Vorsatz, die Frau freundlich zu empfangen, war bereits
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