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Die Eisbärin (German Edition)

Die Eisbärin (German Edition)

Titel: Die Eisbärin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Gereon
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kratzte ein winziges Guckloch in die zugefrorene Windschutzscheibe. Dann schoss sie zurück hinters Lenkrad und jagte den Opel zum Haus. Das SEK hatte sauber und gründlich gearbeitet. Sabine Kleiber stand bereits wieder auf ihren eigenen Füßen, durchsucht und gefesselt. Den Schocker hatte man ebenso schnell gefunden wie das Jagdmesser in der Innentasche ihrer Jacke. Beides lag außerhalb ihrer Reichweite auf dem Boden.
    Klein stieg aus und nickte den vermummten Männern zu, worauf Sabine zum Einsatzwagen geführt wurde.
    „Warten Sie! Die Kinder.“
    Es waren ihre ersten Worte. Die Stimme klang dünn und brüchig, aber gleichzeitig lag eine solche Bestimmtheit und Stärke darin, dass die Männer stehen blieben und eine Haltung einnahmen, die an Ehrfurcht erinnerte. Sabine drehte sich um in Richtung des Hauses, und Klein folgte ihrem Blick. Was er dort sah, sollte sich auf ewig in sein Gedächtnis brennen. Es sollte ihm für alle Zeiten Sinnbild sein für abgrundtiefe Trauer und Schmerz.
    Was er sah, waren zwei kleine Mädchen, reglos und stumm hinter dem weihnachtlich geschmückten Fenster der Küche. Die nassen Haare klebrig um die vor Schreck geweiteten Augen, die kindlichen Körper in bunten, niedlichen Badeanzügen. In ihrer grenzenlosen Angst hielten sie einander die Hände und weinten.
    Klein spürte, wie seine Knie nachgaben. Wäre er allein gewesen, er hätte seiner eigenen Trauer freien Lauf gelassen. Doch er nahm alles an Kraft zusammen, was er aufbringen konnte, und durchbrach das bedrückte Schweigen.
    „Kommen Sie“, sagte er mit zugeschnürter Kehle. „Wir kümmern uns um die Kinder. Darauf haben Sie mein Wort.“
    Sabine Kleiber wandte sich ab. Ihr feuchter Blick streifte den Hund, der noch immer reglos auf dem Boden lag, das helle Fell der Flanke blutverschmiert.
    Dann gingen sie wortlos zum Wagen.

Sonntag, 28. November, 13.10 Uhr
    Markus hasste diesen Moment. Er wusste, dass er unvermeidlich war, aber dennoch erschrak er jedes Mal aufs Neue. Der Pilot verringerte den Schub der Triebwerke, und für eine Sekunde fühlte es sich an, als würden sie abstürzen. Dann begann der Druck auf den Ohren, denn die Maschine ging in den Sinkflug über. Markus schluckte ein paar Mal und sah aus dem Fenster. Die Tragfläche blitzte und funkelte im grellen Sonnenlicht. Der Himmel schimmerte bläulich schwarz und bildete einen scharfen Kontrast zu der riesigen, weißen Wolkenschicht, die sich unter ihnen erstreckte wie ein unberührtes, verschneites Gebirge.
    Markus dachte an den Urlaub, der vor der Tür stand. Die Weihnachtsfeiertage wollten Sabine, Laura und er noch zu Hause verbringen, doch danach würden sie eine Woche lang in Österreich Ski fahren. Er freute sich darauf, denn Laura war mittlerweile gut genug, auch die schwierigen Pisten zu nehmen. Es würde eine schöne Auszeit werden, in der sie als Familie neu zusammenfinden konnten. Genau das hatte ihnen auch Isabella empfohlen, einen Tapetenwechsel. Einen neutralen Ort, an dem die eingefahrenen Mechanismen des Alltags außer Kraft gesetzt waren.
    Markus dachte zurück an das Gespräch mit ihr. Es war ein sehr angenehmes Wiedersehen gewesen. Seine anfänglichen Bedenken hatten sich als völlig unbegründet erwiesen. Sie fanden schnell in ein lockeres Gespräch, scherzten und entdeckten eine Vertrautheit, die Markus nach all den Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Doch schließlich waren sie auf den eigentlichen Grund seines Besuchs gekommen, und die Unterhaltung verlief von nun an in deutlich ernsteren Bahnen. Markus erzählte ihr von Sabine, ohne dabei allzu sehr auf die Anfangszeit einzugehen. Diesen Teil kannte Isabella ja bereits in groben Zügen. Er erzählte von der Hochzeit, dem gemeinsamen Haus, ihren Klavierstunden und von Laura. Er berichtete auch über den Vorfall auf dem Spielplatz, über die Anzeige und Sabines Verhalten danach. Es machte ihm nichts aus, über intime Details zu sprechen. Er vertraute Isabella, und es tat gut, mit jemandem darüber zu reden. Isabella saß einfach nur da und hörte zu. Als er geendet hatte, stand sie auf und kochte Tee. Danach redete sie. Sie sprach über posttraumatische Belastungsstörungen und stellte Fragen zu Sabines eigener Kindheit. Markus musste feststellen, dass er im Grunde erstaunlich wenig darüber wusste. Isabella war klug und kompetent, das klang durch in jedem ihrer Sätze, aber ohne die Kenntnis der Hintergründe musste sich ihre Sicht der Dinge auf die Oberfläche beschränken. Sie

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