Die Eisbärin (German Edition)
gebrochen. Die Frechheit dieser Person ärgerte ihn maßlos.
„Ich bin Rechtsanwältin aus München. Mein Name ist …“
„Ich fragte, was Sie hier wollen?“
Seine Feindseligkeit gewann die Überhand.
Das kurze Stocken der Anwältin entging ihm nicht.
„Ich bin hier aufgrund der Verhaftung von Sabine Kleiber.“
„Nun, das überrascht mich nicht“, stichelte Klein und beugte sich demonstrativ über seine Papiere.
„Ich möchte die Verteidigung übernehmen, aber dafür brauche ich Ihre Hilfe.“
In diesem Moment brach sich Kleins Ärger freie Bahn.
„Was bilden Sie sich eigentlich ein?“, fauchte er sie an. „Kommen hierher und besitzen die Frechheit, die Polizei für Ihre unverschämte Gier nach Geld und Aufmerksamkeit zu missbrauchen! Verschwinden Sie!“
Es irritierte Klein, dass die Anwältin die ganze Zeit über seinem wütenden Blick standgehalten hatte. Langsam beschlichen ihn erste Zweifel, was ihre egoistischen Beweggründe betraf.
„Es geht hier nicht um mich“, flüsterte sie auf dem Weg zur Tür. „Es geht um Sabine.“
Klein schnaubte, sein wütendes Herz pochte noch immer heftig gegen die Rippen.
„Es geht um Sabine“, wiederholte er abfällig. „Das klingt, als würden Sie sich schon jahrelang kennen.“
Sie drehte sich um, und er bemerkte das Zucken um ihre Augenwinkel.
„Das tue ich.“ Ihre Stimme war jetzt fest und klar. „Ich kenne sie von früher. Wir sind zusammen auf das Internat gegangen. Ich kannte auch den toten Lehrer. Herbert Lüscher.“ In ihrem Blick lag jetzt eine ungeheure Intensität. „Herr Klein, ich weiß mehr, als Sie sich vorstellen können. Ich möchte Sabine anbieten, sie zu verteidigen. Aber vor allem möchte ich sie wiedersehen.“
Klein war derart perplex, dass er nichts anderes tun konnte, als die Anwältin anzustarren. Er war wie gelähmt von der Bedeutung und Tragweite ihrer Worte.
„Ich kenne Ihren Namen noch nicht“, sagte er leise.
„Ich hatte noch keine Gelegenheit.“
Ihr Lächeln war traurig, und Klein spürte ihren Schmerz. Jetzt wusste er, dass die Frau nicht aus Profitgier in seinem Büro stand. Womöglich hatte sie als Mädchen das schreckliche Schicksal von Sabine Kleiber geteilt.
„Mein Name ist Julia Winter.“
Klein schielte auf den Ausdruck und musste nicht lange suchen. Sie hatte ihren Mädchennamen behalten. Er atmete schwerfällig aus.
„Sie wissen also Bescheid?“
Julia Winter nickte stumm.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Klein, „das konnte ich nicht ahnen.“
Wieder nickte sie nur.
„Es ist außerordentlich wichtig für uns, dass Sie hierhergekommen sind“, bemühte sich Klein um einen versöhnlichen Ton. „Es gibt noch viele Fragezeichen in diesem Fall. Ich meine, besonders was die Hintergründe …“
„Später“, unterbrach sie ihn leise. „Möglicherweise können wir später darüber reden. Jetzt möchte ich zu Sabine. Können Sie das für mich regeln?“
Klein stand auf und suchte nach den Fahrzeugschlüsseln. Dann fiel ihm ein, dass Bergmann mit dem Opel unterwegs war. Er würde seinen eigenen Wagen nehmen müssen.
„Kommen Sie“, sagte er und führte sie behutsam aus seinem Büro.
Mittwoch, 01. Dezember, 11.20 Uhr
Die weiß verputzten Wände bildeten einen scharfen Kontrast zu der finsteren Schwärze in Sabines Innerem. Seit Tagen aß sie nichts mehr, sondern schüttete die Mahlzeiten heimlich in die Toilette. Sie fühlte auch nichts mehr. Nichts außer der tiefen, unauslöschlichen Sehnsucht nach ihrer Tochter. Man hatte ihr angeboten, Laura zu sehen, wollte sie ködern, um sie zum Sprechen zu bringen. Ihr Herz schrie vor Verlangen, doch ihr Verstand lehnte ab und war überzeugt, dass es besser für das Mädchen sei. Sie sollte ihre Mutter nicht so sehen. Diese eingesperrte traurige Gestalt, die im Begriff war, sich selbst zu zerstören.
Was hatte sie in ihrem Leben nur falsch gemacht? Womit hatte sie es nur verdient, dass Gott ihr dieses Schicksal auferlegte? Ihre Seele war ihr genommen worden, als sie zehn Jahre alt war. Jetzt nahm man ihr die körperliche Freiheit. All das konnte sie irgendwie akzeptieren. Aber dass man ihr Laura wegnahm, war mehr, als sie ertragen konnte. Egal, was für eine Strafe sie auch erwartete, ihre Tochter würde nie wieder bei ihr leben dürfen. Nur für Laura hatte sie gekämpft. Nur um sie zu schützen, hatte sie das getan, was sonst niemand gewagt hatte. Nun würde Laura für immer anderen Menschen gehören. Ihre kleine Laura, die nun auch
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