Die Eisbärin (German Edition)
mindestens ebenso alt wie der Rest der Ausstattung und wurde aufgrund eines Planungsfehlers vollständig verdeckt, sobald man die Zimmertür öffnete. Dominiert wurde der Raum jedoch von zwei wuchtigen Schreibtischen in der Mitte, die einander gegenüberstanden. Beide mit der üblichen Ausstattung: PC, Drucker, Telefon und Faxgerät. Und beide überfüllt mit dem gleichen, scheinbar unbeherrschbaren Chaos. Unterschiede fanden sich nur im Detail. Auf dem einen Kaffee und geschnittenes Obst, auf dem anderen Cola Light und Marlboros. Zwei Tischleuchten verströmten gemütliches Licht und verliehen dem Raum eine angenehme Atmosphäre. Unter die leisen Klänge eines eingeschalteten Radios mischte sich das gelegentliche Knistern der Heizung, die den Kampf gegen die Kälte, die durch die breite Fensterfront einzudringen versuchte, aufgenommen hatte.
Günther Klein war vertieft in einen Lagebericht über die Taten eines Exhibitionisten, die sich im Stadtgebiet häuften, und hörte nur mit einem Ohr, was ihm seine Kollegin gegenüber erzählte. Plötzlich horchte er auf, rollte mit seinem Drehstuhl ein Stück zur Seite und betrachtete die junge Frau.
„Meine Güte, was willst du denn da?“, fragte er mit unverhohlener Skepsis.
„Na, was wohl?“, entgegnete Jennifer Bergmann. „Ein bisschen Sonne tanken nach dem Sommerwitz in diesem Jahr.“
„Verstehe“, sagte Klein und nahm sich ein Stück Apfel, „aber warum muss es denn ausgerechnet Afrika sein?“
„Na ja“, sie gab vor, eine Weile zu überlegen, „vielleicht, weil ich im Urlaub gerne oben ohne herumlaufe und es nicht sonderlich klug wäre, das Mitte Dezember am Ostseestrand zu tun.“
Ein breites Grinsen legte sich über ihr hübsches Gesicht und verursachte winzige Fältchen um ihre leuchtend grünen Augen.
Ärgerlich bemerkte Günther Klein, wie ihm eine leichte Röte in die Wangen schoss, wenngleich er die lockere und zuweilen frivole Art seiner jungen Kollegin mochte.
„Schon gut, Jenny“, wehrte er lächelnd ab. „Fliegst du denn allein, oder …“, er machte eine kurze Pause. Er wusste, dass Jennifer Bergmann zurzeit keinen festen Partner hatte, kannte jedoch auch die hartnäckigen Gerüchte, nach denen sie spontanen, meist aber nur kurzen Bekanntschaften nicht abgeneigt gegenüberstand.
„Oder mit einem Freund?“, ergänzte sie seine Frage, wobei sie dem Wort „Freund“ absichtlich etwas verboten Anrüchiges verlieh. „Nein, ich nehme eine Freundin mit.“
„Ah, zweimal oben ohne also“, entgegnete Günther Klein augenzwinkernd und erntete ein herzliches Lachen.
In diesem Moment klingelte sein Telefon.
„KK 11, Klein“, meldete sich der Ermittler.
Jennifer Bergmann sah zu, wie ihr Kollege während des Gespräches immer ernster wurde, kurze Fragen stellte und Notizen auf einen Block kritzelte.
„In Ordnung, wir machen uns auf den Weg“, sagte er und legte auf.
„Was gibt’s? Das klang ziemlich wichtig.“
„Die Leitstelle“, sagte er und erhob sich seufzend aus dem schweren Bürostuhl. „Wir haben eine Leiche in Essen Steele, stark verwest. Identität noch unklar. Die Kollegen der Streife sagen, es sei nicht sonderlich angenehm.“
Die Fahrt vom Präsidium an der Büscherstraße zum Einsatzort im Osten von Essen, unweit der Stadtgrenze zu Gelsenkirchen, dauerte gut 20 Minuten. Jennifer Bergmann steuerte den zivilen Opel Vectra sicher und zügig über die Straßen. Schon oft hatte Klein seine Kollegin für diese Fähigkeit bewundert. Obwohl sie keine gebürtige Essenerin war, kannte sie sich aus wie kaum jemand sonst. Klein versuchte, sich vorzustellen, was ihn am Einsatzort erwarten würde. Für ihn waren Tote nicht gleich Tote, dafür gab es viel zu viele unterschiedliche Formen und Facetten. Im Laufe weniger Jahre hatte er als Ermittler für Kapitalverbrechen in einer großen Ruhrgebietsbehörde wie Essen so gut wie alle Gesichter des Todes gesehen. Und jedes einzelne von ihnen übte seinen eigenen, grausigen Schrecken auf ihn aus. Von Zeit zu Zeit erschienen sie ihm auch in seinen Träumen und ließen ihn schlaflos zurück. Nun aber rief er sich diese Gesichter bewusst ins Gedächtnis. Neben den friedlich Eingeschlafenen gab es die Erhängten, die Vergifteten, die Erschossenen, die Erstochenen, die Erwürgten und die Ertränkten. Es gab Brandleichen und Erfrorene, da waren die Opfer von Stromschlägen und Unfalltote mit abgetrennten Gliedmaßen und zerschmetterten Köpfen. Es gab alte und junge Tote. Und es gab
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