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Die Eisbärin (German Edition)

Die Eisbärin (German Edition)

Titel: Die Eisbärin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Gereon
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massiveres Schloss. Manche Villa ist nicht so gut gesichert.“
    „Meinst du, du bekommst es hin?“, fragte Kretschmar.
    „Ich denke schon. Vielleicht kostet es ein paar Bohrer und ein bisschen Zeit. Aber dem Geruch nach zu urteilen, sind wir eh schon lange zu spät.“
    Was sonst in drei bis vier Minuten erledigt war, dauerte nicht weniger als fünfunddreißig Minuten. Dann kapitulierte der Zylinder und ließ sich von außen herausziehen. Der Feuerwehrmann öffnete die schwere Tür und schickte sich an, einzutreten. Doch das, was dem erfahrenen Mann entgegenschlug, übertraf alles bisher Erlebte. Der warme, bestialische Gestank traf ihn wie eine eiserne Faust ins Gesicht und ließ ihn benommen zurücktaumeln.
    Offenbar war die Tür nicht nur sicher und schwer, sondern hatte die Wohnung auch dicht verschlossen. Mit dem Aufbruch drang der Gestank nun so unaufhaltsam heraus wie die aufgestauten Fluten eines brechenden Damms. Schnell verbreitete sich der Geruch des Todes im ganzen Treppenhaus.
    Schneider und Kretschmar hatten keine Wahl. Sie mussten in die Wohnung, um sich selbst ein Bild von dem zu machen, was sie erahnten. Sie zogen Handschuhe über, nickten einander zu, holten tief Luft und traten ein.
    Sofort wurden sie von dicker Heizungsluft umgeben und von brummenden Fliegen umschwärmt, die ihren ohnehin großen Ekel noch verstärkten. Es war Kretschmar, der zuerst das Schlafzimmer erreichte. Die Tür zu dem dunklen Raum war nur angelehnt, jedoch schien das Brummen der Insekten dort noch stärker zu sein. Er gab seinem Kollegen ein Zeichen, zog seine Taschenlampe aus dem Gürtel und schob vorsichtig die Tür auf.
    Was er sah, stellte selbst seine schlimmsten Befürchtungen in den Schatten.
    Vor dem Bett lag ein großer, schwarz verfärbter Klumpen. Lediglich die Kleidung war halbwegs zu erkennen und ließ das Gebilde entfernt an einen menschlichen Körper erinnern. Ein schwarzer Teppich aus Fliegen bedeckte flirrend die Leiche.
    Dort, wo Kretschmar Augen, Nase und Mund des Toten vermutete, zeigte sich ein Gewimmel weißer Maden. Im Schein der Taschenlampe schienen die pulsierenden Larvenkörper förmlich zu leuchten.
    Von dem grauenvollen Anblick schockiert, stieß Kretschmar unwillkürlich die angehaltene Luft aus. Dass er es nicht bis an die rettende Frischluft schaffen würde, wusste er im selben Moment. Der junge Beamte drehte sich um und lief, doch bereits im Wohnungsflur setzte der Atemreflex ein. Seine Lungen füllten sich mit einer Mischung aus stickiger Hitze und den Molekülen menschlicher Verwesung.
    Kreidebleich stürzte er aus der Wohnung und erreichte die Treppe zur nächsten Etage. Er hatte keine Chance. In einem explosionsartigen Schwall erbrach Kretschmar sein Mittagessen auf den Stufen und sank zitternd in die Knie. Einer der Sanitäter eilte zu ihm und begleitete ihn stützend nach draußen.
    Auf einer Mauer setzte Kretschmar sich nieder und sog die frische Luft tief ein, als könne sie ihn reinigen. Was ihn am meisten verstörte, war nicht der Anblick des Toten. Es war die Gewissheit, dass er selbst in den nächsten Tagen den Geruch des Todes an sich haben würde. Egal, wie oft er sich waschen oder die Kleidung wechseln würde.
    Schneider, der oben zurückgeblieben war, schloss die Wohnungstür, zückte sein Handy und informierte die Leitstelle. Bis zum Eintreffen der Kriminalpolizei musste er ausharren und die Wohnung sichern.

Mittwoch, 17. November, 13.10 Uhr
    Seit Tagen fiel der Regen in endlosen Fäden aus dicken, grauen Wolken. Die Straßen der Stadt waren gespenstisch leer, wie ausgefegt von den auffrischenden Novemberwinden. Die Menschen versteckten sich in den Häusern, wo ihnen die feuchte Kälte nichts anhaben konnte.
    Auch in dem Gebäudekomplex südlich des Essener Stadtkerns peitschten aufkommende Böen den Regen geräuschvoll gegen die Fensterscheiben der Büros.
    Das Zimmer am Ende des langen Flures in der dritten Etage war ungewöhnlich groß. Der dunkle ausgetretene Teppich und die alten braunen Möbel verliehen dem Raum etwas Schwermütiges, was gut in die Jahreszeit zu passen schien. Was die Schränke und Schubfachbehälter an Wandfläche nicht bedeckten, nahmen Holzregale ein, deren Bretter sich unter der schweren Last an Ordnern, Mappen und Büchern unheilvoll durchbogen. An den ehemals weißen Wänden haftete ein gelblich brauner Schleier, der aus einer Zeit stammte, als das Rauchen in öffentlichen Gebäuden noch gestattet war. Ein kleiner Wandfernseher war

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