Die Eisbärin (German Edition)
Schmunzeln entlockte.
„Natürlich hätten wir das früher oder später auch so herausgefunden“, übte sich Bergmann in Bescheidenheit, „Manfred und Henning haben ja die Pensionszahlungen vom Landesamt entdeckt. Aber vielleicht hat es uns einen zeitlichen Vorsprung verschafft.“
„Das hat es mit Sicherheit“, pflichtete Klein ihr bei. „Ich schlage vor, dass wir uns gleich morgen früh auf den Weg nach Aachen machen, es muss dort Leute geben, die uns mehr über Lüscher berichten können.“
Gegen 18.00 Uhr stand das weitere Vorgehen fest, und die Aufgaben für den kommenden Tag waren verteilt. Klein schickte seine Kollegen in den Feierabend. Er selbst machte sich daran, den Ermittlungsbericht auf den neuesten Stand zu bringen.
Um kurz vor halb neun verließ auch er das Präsidium. Nachdem er den Motor gestartet und die Heizung auf volle Kraft gestellt hatte, entschloss er sich kurzerhand, seinen Bruder zu besuchen.
Berthold Klein war ein paar Jahre jünger als Günther und besaß eine Kneipe im Westen der Stadt. Sie hatten sich ein paar Wochen nicht gesehen, und Klein konnte einen Schnaps durchaus gebrauchen.
Freitag, 19. November, 00.25 Uhr
Als er die vielen roten Grablichter erkannte, wusste Günther Klein, dass er zu Hause war. Während der zehnminütigen Fahrt war er immer wieder eingenickt und schielte nun mit einem Auge auf das Taxameter. Umständlich durchwühlte er seine Jackentasche, bis er schließlich die passenden Münzen fand. „Stimmt so“, sagte er und drückte dem Fahrer das Geld in die Hand.
Das Taxi war bereits lange verschwunden, als er völlig erschöpft auf die Couch in seinem Wohnzimmer sackte. Er hatte keinen Vollrausch, aber seinen Sinneseindrücken nach befand er sich auf hoher, stürmischer See. Wie das lose Inventar eines schwankenden Schiffes schienen die Möbel im Raum, dem Gang mächtiger Wellen folgend, abwechselnd auf ihn zu- und wieder wegzurutschen.
Es hatte nur ein kurzer Besuch werden sollen, aber aus einem Schnaps waren zwei, dann vier, dann sechs geworden. Am Ende waren es neun. Die Kneipe war nur mäßig besucht, und Berthold hatte bereitwillig mitgetrunken. Die beiden hatten ein angeregtes Gespräch unter Brüdern geführt, bis Berthold den Laden kurz vor Mitternacht zugemacht und seinem Bruder ein Taxi gerufen hatte. Er selbst wohnte in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung unmittelbar über der Kneipe. Ihre Mutter Ingeborg wohnte ebenfalls im Haus und half ihrem Jüngsten trotz ihrer 72 Jahre beim Ausschank oder in der Küche, wo sie nur konnte.
Günther Klein überkam plötzlich das Bedürfnis nach frischer Luft. Er erhob sich und trat schwankend auf den kleinen Balkon. Er spürte sofort, wie die frische Kälte den Nebel in seinem Kopf zu vertreiben begann.
Von hier oben konnte er den Friedhof auf der anderen Seite der Westerwaldstraße überblicken. Jetzt, da die Tage kürzer wurden und die Vorweihnachtszeit näher rückte, zündeten die Menschen wieder vermehrt Lichter für ihre Verstorbenen an. Leuchtfeuer des Todes, Mahnmale der Vergänglichkeit, dachte Klein, während sein Blick weiter durch die nächtliche Dunkelheit schweifte.
Von der Hauptstraße her ertönte ein Martinshorn.
„Retten, was zu retten ist.“ Die Worte seines Vaters fielen ihm plötzlich ein. Albert Klein war ein leidenschaftlicher Polizist gewesen und hatte diesen Spruch immer leise vor sich hingemurmelt, wenn er irgendwo eine Sirene hörte. Jedes Mal hatte die Menschen in seiner Nähe das Gefühl beschlichen, es zöge Albert innerlich hinaus, als wolle er unbedingt dabei sein und keine Chance verpassen, der Welt etwas Gutes zu tun.
In Kleins Erinnerung war sein Vater ein einfacher, lebensfroher Mensch gewesen. Vor seinem inneren Auge sah er, wie sie als Kinder zu dritt auf der Holzbank in der Küche saßen, heißen Kakao tranken und den spannenden, lustigen und traurigen Geschichten ihres Vaters lauschten, während die Mutter am Herd stand und Apfelpfannkuchen machte. Günther hatte solche Stunden im Kreise der Familie geliebt, bis eines Tages das Schicksal seiner kindlichen Unbekümmertheit ein jähes Ende setzte. Er konnte sich noch gut an den warmen Sommertag erinnern, als ihre Mutter sie nach einem schweigsamen Mittagessen bat, noch sitzen zu bleiben. Als sie ihnen beibringen musste, dass der Vater nie wieder nach Hause kommen würde, hatte Günther seine Mutter zum ersten Mal völlig zerstört erlebt. Albert war während einer routinemäßigen Verkehrskontrolle von einem
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