Die Eisbärin (German Edition)
Wohnung haben wir ansonsten kein weiteres Foto finden können. Der Rest erinnert an einen ganz normalen Rentnerhaushalt. Alles einfache, funktionale Dinge, die keinen besonderen materiellen Wert verkörpern. Was Bücher oder Zeitschriften betrifft, war Lüscher genügsam. Die vorhandene Literatur beschäftigt sich ausnahmslos mit dem Thema Angeln. Die Tageszeitung hat er sich offenbar jeden Tag besorgt, was sich als Glücksfall für uns erweisen könnte. Die letzte Ausgabe der WAZ auf dem Wohnzimmertisch datiert vom 30. Oktober. Ältere Ausgaben haben wir im Hausmüll gefunden.“
Laschinsky hatte die volle Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Die Kriminalisten wussten, dass diese Informationen von enormer Wichtigkeit waren.
„Auf dem Fernsehtisch lag eine aufgeschlagene Ausgabe der TV Direkt. Auch sie zeigte Samstag, den 30. Oktober. Abschließend haben wir die schnell verderblichen Produkte im Kühlschrank überprüft. Das Ablaufdatum zweier Vollmilchpackungen nannte den 05. November, also einen Zeitpunkt sechs Tage nach der Datumsangabe auf der Tageszeitung. Wenn ihr mich fragt, sind wir damit dem ungefähren Todeszeitpunkt ziemlich nahegekommen.“
Günther Klein fiel ein Stein vom Herzen. Endlich hatten sie einen Ansatz, mit dem sich arbeiten ließ. Wie viel er wert sein würde, musste sich freilich erst zeigen, aber er war froh, dass es überhaupt etwas gab.
Laschinsky schob seine Brille ein Stück tiefer, betrachtete seine Kollegen über den Rand hinweg und fuhr fort: „Ein interessantes Detail gibt es noch. In der Glasvitrine hat Lüscher ein Holzkästchen aufbewahrt, ausgekleidet mit rotem Samt. Darin nichts weiter als zwei metallfarbene Schlüssel. Ein großes und ein kleines Exemplar, aber es gibt keinerlei Hinweis darauf, wofür sie passen könnten.“
„Vielleicht ein Bankschließfach“, vermutete Hecking.
„Ja, daran haben wir auch schon gedacht, aber es finden sich keine Nummern darauf. Das wäre ungewöhnlich für diese Art Schlüssel. Wir werden das auf jeden Fall überprüfen.“
Günther Klein überkam ein Schub neuer Energie. Er wollte gerade zu einer Beratung der weiteren Schritte ansetzen, als ihm Jennifer Bergmanns Verschwinden wieder in den Sinn kam.
„Was war es eigentlich, das du vorhin überprüfen musstest?“, wandte er sich an seine Kollegin.
Alle Augen richteten sich gespannt auf das jüngste Mitglied der Kommission.
„Ich bin hoch zu den Kollegen der Leitstelle gegangen“, sprach Bergmann in die Runde, „deren Rechner an das Internet angeschlossen sind. Ich habe den Namen ,Herbert Lüscher‘ gegoogelt. Immerhin über 40 000 Treffer. Auf den ersten Seiten war jedoch nichts Brauchbares zu finden. Nach einer Dreiviertelstunde bin ich schließlich auf einen Link gestoßen, der auf einen H. Lüscher verwies. Die Verknüpfung führte zur Seite der Schloss-Benedikt-Schule in Aachen, ein angesehenes Internat für Jungen und Mädchen. Es gibt dort eine Galerie mit Fotos der Schule und Gruppenbilder der Abschlussklassen. Interessanter ist aber, dass auch dann Fotos ins Netz gestellt werden, wenn einer der Lehrer die Schule verlässt. Ich habe eine Aufnahme des Lehrerkollegiums aus dem Jahr 1990 entdeckt und neben dem Bild einen kurzen Text, in dem der 55-jährige Geschichts- und Erdkundelehrer H. Lüscher geehrt und mit den üblichen Danksagungen in den Ruhestand verabschiedet wird. Wenn man die Zeit zurückrechnet, wäre er heute genau 74 Jahre alt. Leider wird sein Gesicht durch seinen Vordermann zur Hälfte verdeckt.“
Klein hatte aufmerksam zugehört und kratzte sich mit einem Bleistift hinter dem Ohr.
„Das ist gute Recherchearbeit“, sagte er sichtlich beeindruckt. „Aber was macht dich so sicher, dass es sich um unseren Toten handelt?“
Jennifer Bergmann holte einen farbigen Ausdruck des Internetfotos in Din-A4-Format aus ihrer Mappe und reichte es herum.
„Seht ihr die Uhr?“, fragte sie und ließ die Worte wie eine Feststellung klingen. „Es mag vielleicht mehr als einen 74 Jahre alten Herbert Lüscher geben, aber sicherlich keinen zweiten mit einer breiten, goldenen Uhr am Handgelenk. Zumal es sich auch noch um das rechte handelt.“
Die Kriminalbeamten betrachteten nacheinander das Bild und nickten anerkennend.
„Mensch, Mädchen“, sagte Hecking, „das ist gut. Wirklich gut.“
„Da zahlt es sich also aus, dass du von einem Meister gelernt hast“, ließ Klein sich zu einer spontanen Bemerkung hinreißen, die seiner Mannschaft ein kollektives
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