Die Eisbärin (German Edition)
hoch, bis der oberste Schlitz auf Augenhöhe war.
Das Zimmer zeigte zur Straße hinaus, und er konnte bereits die ersten Menschen erkennen, die sich vor dem Haus einfanden. Seit dem Tag vor genau zwei Wochen, an dem ihn sein Bruder aus der JVA abgeholt hatte und sie in Polizeibegleitung hierhergefahren waren, fanden hier täglich Demonstrationen statt.
Vor seiner Entlassung hatte die Polizeipräsidentin abwägen müssen zwischen den Persönlichkeitsrechten des Sexualstraftäters, der insgesamt vier Mädchen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren vergewaltigt hatte, und der Sicherheit der Menschen, in deren Nähe er künftig leben würde. Letztlich entschied sie sich dafür, die Bevölkerung über den Zuzug Kohlmeyers zu informieren.
Er hatte sich bereits im Gefängnis vor der Freiheit gefürchtet, aber diese Hölle war nicht zu beschreiben. Von Freiheit konnte keine Rede sein. Vor die Tür zu treten war angesichts der aufgebrachten Massen praktisch unmöglich. Und wenn er es früh am Morgen oder spät am Abend doch einmal wagte, wurde er auf Schritt und Tritt von Zivilbeamten verfolgt. Diese arbeiteten im Schichtdienst und waren immer in der Nähe, 24 Stunden am Tag.
Es herrschte nicht nur vor dem Haus eine angespannte, aggressive Stimmung. Auch sein Bruder und dessen Frau waren mit den Nerven am Ende. Für sie war ein normales Leben ebenfalls unmöglich geworden.
Jeden Tag kamen Bereitschaftspolizisten in Mannschaftswagen vorgefahren und zogen Sperrlinien um das Haus, hinter denen sich Dutzende Menschen versammelten und lautstark demonstrierten. An jedem Baum, jeder Laterne und jedem Stromkasten in der Umgebung hingen selbstgemalte Schilder und Plakate, auf denen die besorgten Anwohner ihren Unmut in griffigen Parolen zum Ausdruck brachten.
Es musste etwas geschehen. Lange würde das keiner der Beteiligten mehr aushalten.
Freitag, 19. November, 10.00 Uhr
Günther Klein und Jennifer Bergmann nahmen auf der hölzernen Besucherbank im Flur der Schule Platz und beobachteten das bunte Treiben. Die schrille Glocke läutete zum Ende der großen Pause, und die Schüler folgten ihrem Ruf mit sichtbar unterschiedlicher Motivation. Während die Kleineren von ihnen lachend und kreischend über die langen Flure sausten, schlurften die Teenager gemächlich heran und lehnten sich betont lässig an die Wände ihrer Klassenzimmer. Gelegentlich warf einer von ihnen den fremden Besuchern einen flüchtigen Blick zu, und Günther Klein fragte sich, ob man sie für Vater und Tochter hielt. Übellaunig gestand er sich ein, dass seine Kollegin durchaus noch als Abiturientin durchgehen könnte, während er selbst mindestens so alt aussah, wie er war.
Als schließlich die Tür des Sekretariats aufging, wurde sein Trübsinn von der adretten Erscheinung einer dunkelhaarigen Schönheit vertrieben. Klein registrierte die vollen Lippen und die warme, angenehm rauchige Stimme. Ihre dunklen Locken fielen ihr bis auf die Schultern und umrahmten ein freundliches, dezent geschminktes Gesicht. Ihre enge, seiden schimmernde Hose verriet schlanke Beine, und ihre Bewegungen zeugten von Anmut und Zartheit. Klein schätzte die Frau auf Anfang 40, und er konnte ihre heftige Anziehungskraft auf ihn beinahe körperlich spüren. Er bedauerte zutiefst, dass Jennifer Bergmann die Anmeldung übernommen hatte, während er selbst einem dringenden Bedürfnis auf der Schultoilette nachgegangen war.
Die Frau führte sie in ein angrenzendes Büro, und Klein folgte dem schwachen Geruch ihres süßlichen Parfums wie ein Fährtenhund der frischen Spur des Täters. Nachdem die Sekretärin sie in den Raum geführt und mit der Direktorin der Schule allein gelassen hatte, sank Klein ein Stück in sich zusammen.
Offenbar bemerkte Bergmann die Gefühlsregung ihres Kollegen, denn sie stieß ihm unauffällig, aber schmerzhaft in die Rippen.
„Reiß dich zusammen“, zischte sie, während die Rektorin um ihren Schreibtisch herum auf sie zukam. Bergmann spürte, dass ihr Kollege einen Moment brauchen würde, um sich zu fangen, und übernahm die Vorstellung.
„Guten Tag, Ursula Rietberger“, erwiderte die Rektorin freundlich, schüttelte den Ermittlern die Hand und begab sich wieder zurück zu ihrem majestätischen Thron.
Jennifer Bergmann schilderte den Grund ihres Kommens und gab einen kurzen Abriss über den aktuellen Fall, ohne dabei sensible Details zu verraten.
Wie sich im Laufe des Gespräches herausstellte, war Herbert Lüscher tatsächlich zwischen 1973 und
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