Die Eisbärin (German Edition)
jungen Mann erschossen worden, der einen gestohlenen Wagen fuhr. Später wurde der flüchtige Täter ermittelt und zu sechs Jahren Jugendfreiheitsstrafe verurteilt. Nach vier Jahren und drei Monaten kam er frei. Nicht am Tag der Ermordung, sondern in den Monaten und Jahren nach der Freilassung des Täters lernte Günther, was es bedeutete, abgrundtief zu hassen.
Mit dem Tod seines Vaters musste der damals 14-jährige Sohn in dessen Rolle schlüpfen und war mitverantwortlich für die Erziehung seiner beiden jüngeren Geschwister, der 11-jährigen Maria und dem erst 8-jährigen Berthold.
Das Geld wurde immer knapper, so dass die Mutter schließlich gezwungen war, eine Arbeit zu suchen. Als ungelernte Frau mittleren Alters waren ihre Möglichkeiten jedoch begrenzt. Als eines Tages eine heruntergekommene Kneipe ein paar Straßen weiter zum Verkauf stand, sah sie ihre Chance. Sie nahm einen kleineren Kredit auf und erstand die Lokalität. Mit der Hilfe von Nachbarn und Freunden gelang es ihnen, den Laden mit überschaubaren Kosten zu renovieren. Wenige Monate später hatte sich der Kohlenkeller , wie sie die Kneipe tauften, einen Namen gemacht. Dies lag in erster Linie an dem starken Willen und der harten Arbeit ihrer Mutter, nicht zuletzt aber auch an der warmen, herzlichen Art, die sie sich trotz aller Rückschläge bewahrt hatte. Wenn Günther nachmittags aus der Schule kam, war er für seine Geschwister da. Er kochte, putzte und half bei den Hausaufgaben, so gut er eben konnte. Mit 14 machte er seinen Abschluss an der Volksschule, quälte sich danach durch eine Lehre als Maurer, um sich anschließend trotz der großen Einwände seiner Mutter bei der Polizei zu bewerben. Seine Schwester begann zu studieren, wurde Lehrerin und gründete eine Familie.
Im Hinblick auf Berthold machte Günther sich noch heute oft schwere Vorwürfe. Sein Bruder hatte mit 15 Jahren die Schule abgebrochen und sich in den folgenden Jahren mit Aushilfsarbeiten als Gärtner, Kellner, Tankwart und Kraftfahrer über Wasser gehalten. In dieser Zeit war er oftmals mit dem Gesetz in Konflikt geraten und am Ende nur knapp einer Gefängnisstrafe entkommen. Mit Ende 20 war er schließlich mit in die Kneipe der Mutter eingestiegen, die er dann vor zehn Jahren ganz übernommen hatte. Dass Berthold je eine Beziehung zu einer Frau gehabt hätte, war Günther nicht bekannt, und er fragte sich oft, ob sein Bruder glücklich war. Dass er jedes Mal einen Stich verspürte, wenn er an Berthold dachte, war wohl kein gutes Zeichen.
Er selbst hatte viele Dinge anders gemacht, war ehrgeiziger und zielstrebiger gewesen als sein Bruder. Aber was hatte ihm das genutzt, wo stand er heute? Ein Mann in den beginnenden Fünfzigern, der unaufhaltsam ergraute. Der von seiner Frau vor fünf Jahren wegen eines anderen Mannes verlassen worden war. Ein Normalverdiener, dessen zwei Kinder regelmäßigen, aber nicht überschwänglichen Kontakt zu ihm pflegten. Ein Polizist in mittlerer Führungsverantwortung, der die oberste Stufe seiner beruflichen Karriere bereits erreicht hatte und der gelegentlich den einen oder anderen Schnaps zu viel trank.
Ein Abziehbild meiner selbst. Ich bin ein fleischgewordenes Klischee. Leider mit ein paar Pfunden Fleisch zu viel, aber selbst das passt ins Bild.
Günther Klein schloss die Balkontür und legte sich, noch vollständig bekleidet, ins Bett. Die Weckeruhr zeigte 01.35 Uhr, als er über seinen trüben Gedanken in einen Tiefschlaf fiel.
Freitag, 19. November, 09.00 Uhr
Als Jürgen Kohlmeyer erwachte und die Augen aufschlug, wusste er für einen kurzen panischen Moment lang nicht, wo er war. So erging es ihm an jedem Morgen, seit er in diesem Zimmer schlief. Vorausgesetzt, es gelang ihm überhaupt zu schlafen. Alles war anders. Die Matratze, die Decke, das Kissen, die Geräusche, der Geruch. Doch vor allem war es die ungewohnte Weitläufigkeit, die ihn störte. Das Zimmer im Haus seines Bruders war mit 20 Quadratmetern nicht riesig, aber mehr als doppelt so groß wie seine bisherige Behausung.
Sein altes Bett hatte in einer Ecke gestanden, so dass er stets mit dem Gesicht zur Wand und dem feuchten Putzgeruch in der Nase eingeschlafen war. Die neue Schlafstätte stand mitten im Raum und gab ihm das Gefühl von Unsicherheit und Schutzlosigkeit.
Die Uhr des DVD-Players zeigte 09.03 Uhr. Jürgen Kohlmeyer knipste die Lampe an, atmete tief durch und schälte sich aus dem Bett. Er lief zum Fenster und zog das Rollo vorsichtig ein Stück
Weitere Kostenlose Bücher