Die Eisbärin (German Edition)
nahm.
„Sie sagten, Lüscher hatte ein Alkoholproblem, und sein Wirken am Internat wurde zeitlich herabgestuft.“
Weinheimer nickte. „Richtig. Auf dieser Basis haben wir noch drei Jahre lang zusammengearbeitet. Eines Tages ging es dann nicht mehr.“
„Was ist passiert?“
„Er fing an, die Kontrolle zu verlieren. Er hat einen Schüler beleidigt, ihn als faules Schwein bezeichnet, als er seine Hausaufgaben vergessen hatte. Das war im Frühjahr 1991. Ich habe ein letztes Gespräch mit ihm geführt und ihm endgültig Konsequenzen angedroht. Vier Wochen später passierte es dann erneut, und ich habe gehandelt. Ich habe alle seine Kurse gestrichen und ihn gezwungen, sich ärztlich untersuchen zu lassen.“
„Wie haben Sie das angestellt?“
„Nun, ich habe Lüscher gedroht, ihn öffentlich an den Pranger zu stellen, falls er sich weigert. Das hat scheinbar gewirkt. Er hat einen Arzt konsultiert, und wie sich herausstellte, war es allerhöchste Zeit. Lüscher wurde eine Berufsunfähigkeit attestiert. Zum Sommer 1991 wurde er in den vorzeitigen Ruhestand entlassen. Ich habe nie wieder von ihm gehört.“
„Wie hieß der Arzt, der ihn damals untersucht hat?“
Weinheimer runzelte die Stirn.
„Das weiß ich nicht mehr genau, da müsste ich nachsehen. Möglicherweise habe ich seinen Namen in alten Unterlagen, die …“
„Nicht nötig, Herr Weinheimer. Das werden wir schon herausfinden, so wichtig ist es nicht. Wir wollen Ihre Zeit auch nicht länger in Anspruch nehmen.“
„Ich habe gerne geholfen.“ Er blickte Klein in die Augen. „Darf ich Sie etwas fragen, Herr Klein?“
„Sicher.“
„Verraten Sie mir, wie Lüscher gestorben ist?“
Klein wechselte einen kurzen Blick mit seiner Kollegin und antwortete dann: „Man hat ihn erstochen. In seiner eigenen Wohnung.“
Weinheimer verzog angewidert das Gesicht und senkte seinen Blick auf die gefalteten Hände. Seine Lippen bewegten sich lautlos, und es schien, als würde er beten.
„Wir finden allein hinaus. Auf Wiedersehen, Herr Weinheimer.“
„Auf Wiedersehen“, antwortete der alte Mann. Seine Stimme war jetzt brüchig und dünn.
***
Fünf Minuten später saßen Bergmann und Klein wieder im Wagen und steuerten auf den noch immer geöffneten Torflügel zu. An einem der vielen Fenster hinter ihnen saß Weinheimer, beobachtete sie und presste einen Hörer an sein Ohr. Als der Opel um die Ecke verschwand, meldete sich die Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Ja bitte?“
„Ich bin es, Alois. Es ist so weit.“
„Die Polizei?“
„Ja, ein Mordermittler aus Essen.“
„Der kann uns nicht gefährlich werden.“
„Wie ein Dummkopf kam er mir nicht vor. Er hat die Sache mit Lüschers Pensionierung zwar heruntergespielt, aber ich denke, er wird der Sache nachgehen.“
„Du hast ihm meinen Namen nicht genannt, oder?“
„Nein, aber es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis er ihn herausfindet.“
„Und wenn schon, Alois. Von mir wird er nichts erfahren. In ein paar Wochen ist der ganze Zirkus vorbei.“
„Manchmal denke ich, wir haben damals einen schweren Fehler gemacht.“
„Es war unsere gemeinsame Entscheidung, vergiss das nicht. Wir haben damals genau das Richtige getan und das Internat vor großem Schaden bewahrt! Vertrau mir, Alois. Wie geht es Hildegard?“
„Sie hatte wieder einen Anfall. Es wird immer schlimmer.“
„Erhöhe die Dosis des Galantamin ein wenig. Ich schaue in der nächsten Woche nach ihr, in Ordnung?“
„Möge Gott uns vergeben und unsere wahren Absichten erkennen. Auf Wiederhören.“
„Auf Wiederhören.“
Montag, 22. November, 12.55 Uhr
„Ich frage mich bloß, wie uns das weiterhelfen soll, verdammt noch mal“, sagte Bergmann.
Es waren die ersten Worte, seit sie das Weinheimersche Anwesen verlassen hatten. Klein beugte sich vor und drehte das Radio leiser.
„Jedenfalls wirft die Geschichte ein völlig anderes Licht auf Lüscher“, sagte er.
„Soll heißen?“ Bergmann war sichtlich gereizt.
Klein drehte den Kopf und musterte ihr regloses Profil.
„Du hast es gehört“, sagte er. „Es gab offenbar eine Zeit in seinem Leben, in der er nicht allergisch auf andere Menschen reagiert hat. Ganz im Gegenteil. Er hat den Kontakt zu ihnen von sich aus gesucht und war zufrieden mit seiner Situation.“
„Eben, das ist es ja, was mich stört.“
„Dass er glücklich war?“
„Ja, … ich meine, nein. Die Sauferei. Warum sollte er zulassen, dass sie sein Leben kaputt
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