Die Eisbärin (German Edition)
Tag, nachts wird geschlafen. Ich kann Ihnen versichern …“
Alois Weinheimer verstummte, als ein gellender Schrei durch die dicken Mauern des Arbeitszimmers drang. Klein konnte das Geräusch nicht orten, aber irgendwo im Haus schrie eine Frau. Er war bereits aufgesprungen, als die Zimmertür aufflog.
„Was war das?“, rief Bergmann.
„Ich habe keine Ahnung. Herr Weinheimer?“
„Sie können sich beruhigen, meine Herrschaften. Es ist alles in Ordnung, glauben Sie mir.“
Der alte Mann schien nicht im Geringsten besorgt zu sein. Er löste die Bremse seines Rollstuhls und fuhr langsam in Richtung Tür.
„Meine Frau“, sagte er, und in seinem Gesicht lag ein Ausdruck tiefer Traurigkeit. „Sie leidet an Demenz, seit vier Jahren. Wenn sie aufwacht, weiß sie oft nicht, wer und wo sie ist, und bekommt Panik. Ich muss kurz nach ihr sehen. Bitte entschuldigen Sie mich.“
Weinheimer rollte aus dem Raum und stieß auf dem Flur beinahe mit der Frau zusammen, die ihnen geöffnet hatte. Klein vermutete, dass sie eine häusliche Pflegekraft war.
„Beängstigend, nicht?“
Bergmann hatte das Telefonat beendet, war dicht an ihren Kollegen herangetreten und vervollständigte ihre Notizen.
„Ja“, sagte Klein, ging zur Wand und betrachtete die Urkunden und Fotos. Auf einer der Aufnahmen erkannte er den jungen Alois Weinheimer als frischgebackenen Hochschulabsolventen. Ein anderes zeigte ihn in einer Gruppe junger, kräftiger Männer, versammelt um ein schmales Boot, die Ruderblätter jubelnd in den blauen Himmel gereckt. Ein drittes Foto stammte vom Tag seiner Hochzeit. Die Braut an seiner Seite war eine auffallend hübsche Frau mit langem, dunklem Haar und sanften, liebevollen Augen. Klein stellte sich vor, wie diese Frau nebenan im Zimmer saß, gealtert, hilflos und ängstlich. Weinend um ihr vergessenes Leben. Ein Frösteln packte ihn, und er wandte sich ab. Klein trat an das Fenster am anderen Ende des Raumes. Man konnte ein Stück der Terrasse erkennen. Die restliche Sicht wurde von einem groß angelegten Kräutergarten ausgefüllt, in dem um diese Jahreszeit nur die verwitterten Pappschildchen an die geordnete Pracht erinnerten, die hier im Sommer gedieh. Er drehte sich um, als Bergmann Block und Stift beiseitelegte.
„Wer war das eben am Telefon?“
„Hecking“, sagte sie, ohne aufzublicken, und verstaute die Sachen in ihrer Tasche.
„Und?“
„Die Telefongesellschaft hat endlich ihren Hintern bewegt und uns die Auswertung von Lüschers Gesprächen geschickt.“
„Ich höre“, sagte Klein gespannt.
„Es sieht so aus, als ob wir richtiggelegen haben. Lüscher muss ziemlich einsam gewesen sein. Die Aufzeichnungen reichen ein Jahr zurück. In dieser Zeit ist er ganze vier Mal angerufen worden. Dreimal von seinem Arzt und einmal von einer Autowerkstatt.“
„Und die abgehenden Gespräche?“
„Auch da war er äußerst zurückhaltend. Hauptsächlich die bereits bekannten Anlaufstellen.“
„Also wieder eine Niete, was?“
„Nicht unbedingt. Es gibt eine unbekannte Düsseldorfer Nummer, die immer wieder auftaucht. Bernd sagt, Lüscher hat sie regelmäßig ein- bis dreimal im Monat angerufen.“
Wieder wurde Klein von diesem Kribbeln ergriffen. Sein Gefühl sagte ihm, dass diese Information wichtig war.
„Haben wir noch nichts Genaueres zu dieser Nummer?“
„Nein“, sagte Bergmann. „Im Telefonbuch ist sie nicht verzeichnet. Bernd checkt unsere eigenen Systeme, vielleicht haben wir Glück. Er will gleich noch mal zurückrufen.“
„Gut“, sagte Klein. „Sieht so aus, als kämen wir ein Stück voran, hm?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Bergmann. „Die Sache mit dem Internat ist ein völlig neuer Aspekt, aber bis jetzt sehe ich nicht, wie uns das weiterbringt. Dass Lüscher Alkoholiker war, ist jedenfalls nichts Neues.“
„Entschuldigen Sie bitte.“
Bergmann und Klein zuckten beide kurz zusammen, als Weinheimer plötzlich hinter ihnen auftauchte und zurück an seinen Platz fuhr. Er konnte sich mit seinem Rollstuhl offenbar völlig geräuschlos bewegen.
„Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen“, sagte Klein, der nicht recht wusste, wie er sich Weinheimer gegenüber verhalten sollte. „Geht es Ihrer Frau wieder besser?“
„Sie hat sich beruhigt, ja. Schwester Augusta ist jetzt bei ihr. Wo waren wir stehengeblieben?“
Es war offensichtlich, dass er die Krankheit seiner Frau nicht länger thematisieren wollte, was Klein letztlich dankbar zur Kenntnis
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