Die Eisbärin (German Edition)
Lüscher zu sprechen, schien ihm nicht leichtzufallen. Sein Gesicht bekam einen Ausdruck, der ihn noch älter und gebrechlicher erscheinen ließ, als er war.
„Ein paar Monate später suchte er das Gespräch mit mir. Er bot sich an, gelegentliche Nachtwachen und Wochenendaufsichten über die Schüler zu übernehmen. Mit anderen Worten: Er wollte die Aufgaben eines Mentors übernehmen.“
„Wie haben Sie sich entschieden?“, fragte Klein verblüfft.
„Nun, das war keine Entscheidung, die ich an Ort und Stelle treffen konnte. Ich habe seinen Vorschlag mit den anderen Dozenten, Mentoren und Vertretern der Stiftung beratschlagt. Nicht zuletzt ging es ja auch um mehr Geld, von der hohen Verantwortung ganz zu schweigen.“
„Und?“ Klein war äußerst neugierig auf die Antwort. Dass Lüscher bewusst die Nähe zu anderen Menschen gesucht hatte, passte in keiner Weise in das Bild, das sich bisher ergeben hatte.
„Es gab ein paar Stimmen, die dagegen waren“, räumte Weinheimer ein. „Lüscher war getaufter Katholik, aber über seine wahre Religiosität war wenig bekannt. Die Konservativen in der Stiftung befürchteten eine Aufweichung ihrer Wertvorstellungen.“
„Aber die Befürworter haben sich durchgesetzt, und er hat den Job bekommen?“
„Ja. Wir haben ihm das Vertrauen geschenkt, und niemand hat es bereut. Ich meine, Lüscher galt nicht als ausgemachte Frohnatur und war nicht beliebt im herkömmlichen Sinne. Er war ein strenger Lehrer, der immer eine gewisse Distanz zu den Schülern wie auch zu den Kolleginnen und Kollegen wahrte. Er war geradlinig und hatte seine Prinzipien. Ein Mann, der die Wertschätzung der Stiftung, wie auch meine eigene, stets hinter sich wusste.“
Klein spürte ein Prickeln, das vom Nacken abwärts seine Wirbelsäule hinunterlief. Sie bekamen gerade einen völlig neuen Blickwinkel auf Lüscher.
„Welchen zeitlichen Rahmen umfasste die neue Aufgabe? Er wird ja sicher nicht jeden Tag am Internat verbracht haben.“
„Nein, nein.“ Weinheimer lächelte schwach. „Es beschränkte sich auf durchschnittlich acht bis zehn Tage im Monat, manchmal mehr, manchmal weniger.“
„Ihr Nachfolger, Klaus Dambeck, hat uns einiges erzählt über das Leben im Internat. Über die Arbeit der Mentoren wissen wir aber noch zu wenig. Wie sieht eine solche Betreuung aus?“
„Wie Sie sicher erfahren haben, steht es den Schülern an jedem dritten Wochenende frei, nach Hause zu fahren. An den übrigen herrscht Internatspflicht. Aber auch an den freien Tagen verbleibt ein Großteil der Schülerschaft im Hause.“
„Warum?“, fragte Klein, obwohl er die Antwort natürlich wusste.
„Wissen Sie, viele Eltern geben ihre Kinder nicht ohne Grund in unsere Hände, sie haben berufliche Aufgaben, die sie voll und ganz ausfüllen, so dass ihnen schlicht die Zeit fehlt, sich angemessen um ihren Nachwuchs zu kümmern. Und dann gibt es noch diejenigen, die niemanden mehr haben, zu dem sie gehen können.“
„Sie reden von Waisenkindern? Kommen diese nicht automatisch in ein Heim?“
„Nicht unbedingt. Gerade wenn ein starker finanzieller Hintergrund vorhanden ist, kommt es sogar relativ häufig vor, dass Halb- und Vollwaisen im Internat aufwachsen, wo sie gegenüber den Heimen einen großen Bildungsvorteil genießen. Sehen Sie, für all diese Kinder sind unsere Mentoren da. Sie gestalten die Freizeitangebote, geben Hilfestellung bei den Hausaufgaben und suchen das Gespräch überall dort, wo sie Probleme und Missstände erkennen. Unter der Woche ist es simpler. Die Mentoren nehmen zusammen mit den Schülern das Abendessen ein und verbleiben dann bis zum nächsten Morgen im Hause. Während wir von montags bis freitags mit zwei Mentoren auskommen, stellen wir an den Wochenenden einen pro zehn Kinder.“
„Das heißt“, fragte Klein, „diese Mentoren bekommen ihr eigenes Zimmer im Schloss?“
„Ja, natürlich. Jeder von ihnen hat sein eigenes Zimmer. Aber Luxus ist wohl kaum der Grund, diese Arbeit zu machen. Sie müssen mit einem Bett, einem Schrank und einem Schreibtisch auskommen. Fernseher gibt es erst seit ein paar Jahren.“
„Nur, um sicher zu sein. Auch Lüscher hatte also sein eigenes Zimmer im Schloss?“
„Ja, er hatte es bis zu seiner Pensionierung im Sommer 1991.“
„Gab es je nennenswerte Probleme? Ich meine, Schwierigkeiten oder irgendwelche Vorfälle?“
Weinheimer war offenbar kein besonders geübter Lügner. Trotz seiner Lähmung wand er sich regelrecht in seinem
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