Die Eisbärin (German Edition)
Rollstuhl. „Wie gesagt, Lüscher war immer sehr zuverlässig und …“
„Herr Weinheimer“, fiel ihm Klein barsch ins Wort. „Herbert Lüscher ist tot. Er ist ermordet worden, und uns ist außerordentlich viel daran gelegen, seinen Mörder zu finden. Es ist wenig hilfreich, wenn Sie uns Dinge verschweigen, mögen die Gründe dafür auch noch so edel sein. Wir möchten gern die Wahrheit erfahren.“
Es war das erste Mal, dass Alois Weinheimer Günther Klein nun für längere Zeit in die Augen sah. Dann senkte er den Blick und nickte stumm. Er setzte gerade an, etwas zu sagen, als Kleins Handy piepte. Ärgerlich über die Störung in einem denkbar ungünstigen Moment, zog Klein das Telefon aus seiner Jackentasche und drückte das Gespräch einfach weg.
„Herr Weinheimer“, sagte er trocken, „bitte fahren Sie fort.“
„Am Anfang waren es bloß Gerüchte, doch dann verdichteten sich die Hinweise immer mehr.“
„Bitte, Herr Weinheimer!“
Das gehemmte Zögern des alten Mannes brachte Klein allmählich auf die Palme. Dann piepte es erneut. Diesmal war es Bergmanns Handy, das sich bemerkbar machte. Sie nahm das Gespräch entgegen, raunte eine leise Entschuldigung und verließ den Raum. Klein zwang sich, ruhig zu bleiben, und wartete, bis sein Gegenüber das Wort ergriff. Weinheimer hatte anscheinend begriffen, dass er Informationen liefern musste.
„Zuerst haben mich Kollegen darauf angesprochen, später gab es dann auch vereinzelte Beschwerden von Schülern. Lüscher hatte offenbar angefangen zu trinken. In den Besprechungen ist es mir dann auch aufgefallen, manchmal hatte er bereits morgens eine heftige Fahne.“
„Er hat getrunken?“
Klein spürte die Enttäuschung, schließlich war diese Information alles andere als neu für sie.
„Ja“, sagte Weinheimer. „In immer kürzeren Abständen und in immer größeren Mengen.“
„Warum macht Sie das so betroffen?“, wollte Klein von ihm wissen. „Ich meine, dass Lehrer anfangen zu trinken, kommt eben vor. Es überrascht mich auch nicht, wenn ich sehe, was an den Schulen so alles passiert.“
„Nicht bei uns! Nicht an unserem Internat! Wir sind ein ehrwürdiges Haus mit langer Tradition und ausgezeichnetem Ruf, vergessen Sie das nicht!“
Weinheimer hatte einen Arm gehoben und die Hand zu einer Faust geballt. Seine Stimme war laut und durchdringend, und Klein bekam eine Ahnung davon, welcher Ton damals an der Schule geherrscht haben musste. Dann hielt der Alte inne und sank hüstelnd in sich zusammen. Der Gefühlsausbruch hatte ihn offenbar Kraft gekostet.
„Wie schlimm wurde es mit der Trinkerei?“, fragte Klein nach einer kurzen Pause.
„Lüscher war weiterhin in der Lage, die Kurse zu geben. Seine fachlichen Leistungen waren weiterhin auf hohem Niveau, doch sein Ruf war beschädigt.“
„Was haben Sie getan? Sie hätten ihn wieder entlassen können.“
„Ja, das wäre möglich gewesen.“
„Aber Sie haben es nicht getan, und dafür muss es einen Grund geben. Diesen Grund würde ich gerne erfahren.“
Weinheimer nickte zögerlich, dann fuhr er fort:
„Ich denke, ich habe es immer als schwere persönliche Niederlage betrachtet. Ich habe ihn ans Internat geholt, ich war es, der sich mit flammender Zunge für ihn eingesetzt hat. Ich habe mir eingeredet, Lüscher zu entlassen, käme einem Eingeständnis meines Versagens, meiner Inkompetenz gleich. Meine Position als Internatsdirektor wäre geschwächt worden.“
„Das verstehe ich, aber irgendetwas müssen Sie doch unternommen haben?“
„Natürlich. Ich habe ihn bestimmt ein Dutzend Mal zum persönlichen Gespräch gebeten. Er sagte, er mache eine schwere Phase durch, aber er wolle seine Verpflichtungen am Internat um keinen Preis aufgeben.“
„Hat er Ihnen gesagt, was für eine Phase das war?“
„Nein, über die Gründe hat er nichts gesagt. Er hat mir nur immer wieder versprochen, den Alkoholkonsum einzuschränken.“
„Aber das hat nicht geklappt, nicht wahr?“
„Nur eine gewisse Zeitlang, mal waren es Wochen, mal ganze Monate, in denen er sich beherrschte. Bis zum nächsten Rückfall. Ich habe ihm die Wochenendschichten entzogen und seine Kurse wieder auf zwei Nachmittage begrenzt. Die Nachtaufsichten unter der Woche hat er aber weiterhin regelmäßig übernommen. Wissen Sie, unser Internat ist eine klar geführte Institution. Es gibt dort nachts keine Horden wildgewordener Jugendlicher, die die Flure unsicher machen. Unsere Schüler haben einen anstrengenden
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