Die Eisbärin (German Edition)
Werden.“
Kleins müder Verstand brauchte ein paar Sekunden, um die Tragweite dieser Information zu erfassen.
„Scheiße.“
Langsam richtete er sich auf.
„Du sagst es. Das Ganze ist keine Viertelstunde her. Hier bricht gerade die Hölle los, und es wird sekündlich schlimmer.“
Kleins Gehirn arbeitete jetzt auf Hochtouren. Tausend Fragen schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf, aber er fürchtete, dass Heppner zu diesem Zeitpunkt auch nicht viel mehr wusste. „Wird das Haus nicht bewacht?“
„Doch, die Kollegen standen vorne an der Straße. Der Täter ist durch den Wald gekommen und durch eine Kellertür eingedrungen.“
„Wer ist angefordert?“
„Das volle Programm“, antwortete Heppner. „Tatortgruppe LKA, Staatsanwaltschaft, Hubschrauber, Man Trailer, Technische Einheiten, Streifenteams aus anderen Behörden, der ganze Apparat läuft an.“
„Gut. Was ist mit Klaus Sperber von der KTU?“
„Wie gesagt, die Leute vom LKA sind unterwegs.“
„Ich will ihn trotzdem. Ruf ihn an und schick ihn zum Tatort. Er muss unbedingt dabei sein.“
„Mach ich“, versprach Heppner.
„Presse?“
„Bislang noch nichts. Aber es kann nicht mehr lange dauern, bis die Nachbarn was merken. Und dann werden wir es mit einem Massenauflauf da draußen zu tun haben.“
„Ja, das wird ein Problem. Was sonst noch?“
„Das ist erst mal alles. Vorläufiger Polizeiführer vor Ort ist Harald Wenning, Dienstgruppenleiter Wache Süd. Wann bist du da?“
Klein war bereits auf dem Weg ins Badezimmer. Der Tatort lag keine fünf Kilometer Luftlinie entfernt. „Zehn Minuten“, sagte er und legte auf.
Vier Minuten später jagte Klein die Bundesstraße hinunter. Die Fahrbahn am Werdener Berg war abschüssig, kurvig und nass, doch die Tachonadel kratzte am dreistelligen Bereich. Der Radarkasten am Ende der Geraden verschoss seinen gelben Blitz und dokumentierte einen unrasierten, nicht angeschnallten, telefonierenden Ermittlungsleiter. Neben Bergmann rief Klein auch Hecking und Klee an. Lauterbach und Laschinsky ließ er mit Rücksicht auf ihre familiären Umstände vorerst schlafen. Die anderen Kollegen versprachen, sich umgehend auf den Weg zu machen.
Klein hielt sich scharf links und überquerte die Ruhr. An der nächsten Kreuzung hängte er sich hinter einen Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht, der ihn zielsicher durch das Netz aus kleinen Wohnstraßen führte. Um 03.21 Uhr bremste Klein vor dem Haus der Kohlmeyers. Wie befürchtet, hatten die ersten Nachbarn ihre Häuser verlassen und filmten das Geschehen mit ihren Handys und Camcordern. Die uniformierten Kollegen hatten bereits jetzt große Probleme, die Leute hinter die Absperrung zu drängen.
In einem der weiter vorne geparkten Streifenwagen fand Klein einen hektisch ins Funkgerät bellenden Harald Wenning.
„Verfluchtes Sauwetter“, schimpfte der Dienstgruppenleiter, als er Klein bemerkte, „macht uns die ganzen Spuren kaputt.“ Dann lächelte er dünn und gab Klein die Hand. „Heute schon gefrühstückt?“, fragte er.
„Nein“, antwortete Klein und sah die Besorgnis im Gesicht des Kollegen, die sich hinter der Fassade aus Routine und Souveränität versteckte. „Ist wohl besser so, nicht?“
Zur Antwort nickte Wenning knapp.
„Gehen wir“, sagte Klein, zog ein paar Einweghandschuhe aus seiner Tasche und steuerte auf das Haus zu. Das flackernde Licht der Blaulichter hüllte es in ein unruhiges Muster aus Hell und Dunkel. Es sah aus, als stürze sich eine Armee aus angriffslustigen Schattengeistern gegen die Mauern. Das wird eine lange Nacht, dachte Klein und trat durch die Tür.
***
Sabine lag in ihrem Bett und starrte zur Decke. Sie fühlte sich merkwürdig leicht, als würde sie schweben. Das Bad hatte ihr gutgetan, wenn man von dem Brennen des Seifenwassers in den Wunden an Schienbein und Kinn einmal absah. Sie war wieder sauber und rein, und die Wärme kroch zurück in den Körper.
Die letzte Stunde hatte sie wie in Trance verbracht. Die Rückfahrt nach Hause, das Umziehen in der Garage und das Entfernen des Blutes aus ihrem Gesicht. Sabine war nicht in der Lage, ihren Rauschzustand zu beenden. Wie ein Betrunkener nach einer durchzechten Nacht würde sie bis zum Aufwachen am nächsten Morgen warten müssen, bis sich ihr Zustand wieder normalisierte.
Sie schloss die Augen und dachte an ihre Familie. Langsam entstanden Bilder einer Sommerlandschaft, erst undeutlich, dann immer klarer. Sie sah sich an einem langen Strand,
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