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Die Eisbärin (German Edition)

Die Eisbärin (German Edition)

Titel: Die Eisbärin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Gereon
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vor dem leblosen Körper seines Bruders, hatte die Hände erhoben und flehte ihn an, wieder aufzuwachen. Dass es vergeblich war, erkannte Christoph sofort. Die vor Schreck weit aufgerissenen Augen, der schiefe Mund und vor allem das Blut. Er hatte nie zuvor einen Tatort mit so viel Blut gesehen. Bis zur Decke war es gespritzt, tropfte von dort herab oder lief in dicken Fäden an der Wand herunter. Der Druck im Gefäßsystem musste ungeheuerlich gewesen sein. Auf dem Fenster war Blut, es tropfte vom Fernseher und sogar von dem „Stones“-Plakat an der Tür. Januscheit bombardierte Karsten Kohlmeyer mit Fragen, doch der Bruder des Schwerverbrechers schien ihn nicht zu hören. Er kniete am Boden, die Arme herabgesunken, den Kopf nach hinten geneigt, und weinte hemmungslos wie ein Kind. Januscheit erinnerte sich, wie der Mann draußen auf sie zugestürmt war. „Abgehauen durch den Keller. Sucht den Wald ab.“ Er verließ den Raum, nahm das Handy aus der Hosentasche und wählte den Notruf. Dann zog er seine Pistole, schaltete die Taschenlampe ein und verstieß gegen alles, was er je gelernt hatte. Jede Regel professioneller Polizeiarbeit wurde in dem Moment gebrochen, als er begann, die Kellertreppe hinabzusteigen. Er wusste es, aber sein Jagdtrieb war stärker.
    ***
    Sabine stolperte, die Zweige schlugen ihr ins Gesicht, und ihr Schweiß vermischte sich mit dem Regen, der inzwischen in dicken Tropfen vom stürmischen Himmel fiel. Sabine konnte nicht einen klaren Gedanken fassen, Körper und Geist waren einzig und allein auf Flucht und Überleben programmiert. Sie kämpfte sich durch Dunkelheit, dichtes Geäst und schlammigen Morast, nichts anderes vor Augen als das rettende Ziel. Dann erreichte sie den schmalen Pfad. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie noch immer beide Waffen in den Händen hielt. Hastig verstaute sie beides mit zittrigen Fingern und begann wieder zu laufen. Sie rannte, so schnell sie konnte, hinaus aus dem Wald, das kurze Stück über die Straße und wieder hinein in die Felder. Sie lief und lief, ohne Pause, ohne Gedanken, ohne Empfindungen. Der Wind war noch stärker geworden, fegte ihr die nassen Böen in den Rücken und schien Sabine regelrecht vor sich herzutreiben. Sie wurde immer schneller und stoppte erst, als sie den Parkplatz erreichte. Keuchend und völlig durchnässt, zog sie den Schlüsselbund aus der Hosentasche und setzte sich ins Auto.
    Mit dem ersten tiefen Atemzug im verriegelten Wagen strömte eine grenzenlose Dunkelheit in Sabines Körper. So fremd war sie sich noch nie gewesen. Sie war unfähig, sich zu bewegen, während der Schweiß noch aus ihren Poren rann und das Herz wild gegen die Rippen pochte. Sie versuchte, in ihren rauschhaften Schock hineinzuhorchen, und sah Bildsequenzen wild durcheinanderlaufen. Ein Gedankenfetzen tauchte auf, und Sabine bemühte sich, ihn festzuhalten: Sie hatte es geschafft, sie hatte den Auftrag erfüllt und die Welt von einer Bestie befreit. Sie würde glücklich sein. Sabine verzog die Mundwinkel zu einem dünnen Lächeln, aber die Bewegung schmerzte in ihrem vor Anstrengung noch immer erhitzten Gesicht.

III. Teil

Mittwoch, 24. November, 03.05 Uhr
    Zum zweiten Mal in dieser Nacht wurde er unsanft aus dem Schlaf gerissen. An der aufdringlichen Nokia-Melodie erkannte Klein, dass es sein Diensthandy war, das klingelte. Widerwillig öffnete er die Augen und blickte auf die Anzeige des alten Radioweckers.
    „Das gibt’s doch nicht“, brummte er, drehte sich auf die Seite und erreichte mit Mühe die zerknitterte Jeans auf dem Boden vor seinem Bett. Er bekam das Telefon zu fassen und sank zurück auf das Kopfkissen.
    „Klein.“
    Seine Stimme klang rauh und belegt.
    „Leitstelle hier, Heppner. Hab ich dich geweckt?“
    Es war immer die gleiche Frage, und Günther Klein ärgerte sich jedes Mal aufs Neue über sie. Er war nicht mehr im Schichtdienst, was glaubten diese Leute eigentlich, was er nachts um drei trieb?
    „Nein“, sagte er. „Ich tapeziere gerade den Keller.“
    Der Mann am anderen Ende der Leitung überging die flapsige Bemerkung, und Klein spürte trotz der Verärgerung das Erwachen seiner Neugier. Wenn man ihn nachts aus dem Bett klingelte, hatte das in der Regel triftige Gründe.
    „Wir haben hier ein Problem“, bestätigte Heppner. „Ziemlich ernst.“
    „Ich höre“, sagte er.
    „Jemand ist heute Nacht in das Haus der Kohlmeyers eingebrochen. Er hat Jürgen Kohlmeyer erstochen. Du weißt schon, diesen Triebtäter aus

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