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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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zurückzukehren.
    »Wahrscheinlich nachts,
oder?«
    »Nachts? Warum? Wir wissen
nicht genau, wann sie verschwunden sind.«
    Der Mann schwieg einen Moment.
»Vielleicht hat sich das ja noch nicht bis zu euch
rumgesprochen, aber ein paar von uns haben, als Halldór und
Bjarki alleine im Camp waren, nachts Telefonanrufe bekommen. Es war
mitten in der Nacht, deshalb ist niemand rangegangen, und am
nächsten Tag waren sie nicht mehr zu erreichen. Seitdem hat
keiner mehr was von ihnen gehört. Du kannst dir vielleicht
vorstellen, warum wir nicht gerade sonderlich scharf darauf sind,
ins Camp zurückzufahren. Wahrscheinlich haben Bjarki und
Halldór versucht, Hilfe zu rufen. Fragt sich, was passiert
wäre, wenn sie jemanden erreicht
hätten.«
    Dóra saß an der
kleinen Bar und versuchte, Gylfi anzurufen. Ihr Sohn hatte sie
gebeten, später noch einmal zurückzurufen, da er gerade
Auto fuhr. Aus irgendeinem Grund wurde Dóra ganz
sentimental, als sie seine Stimme hörte, vielleicht, weil sie
ihn vermisste, vielleicht, weil sie merkte, dass das Leben ihrer
Kinder einfach weiterlief, obwohl sie nicht da war. Aber
wahrscheinlich lag es auch an dem Gefühl, vom Tod umgeben zu
sein. Eben erst hatte er sich wieder bemerkbar gemacht. Die Knochen
in den Schubladen mussten von Usinna, der Tochter des Jägers,
stammen. Es war absurd, dass eine andere Frau mit Usinnas Halskette
bestattet worden sein könnte. Andererseits passte das nicht zu
den Informationen, die Dóra im Dorf bekommen hatte.
Angeblich war die junge Frau in das verbotene Gebiet eingedrungen
und einfach verschwunden, aber nicht bestattet worden. Wie es nun
aussah, war sie zwar nicht unbedingt eines gewaltsamen Todes
gestorben, aber auf jeden Fall hatte jemand ihre Leiche gefunden.
Schwer zu sagen, wer das gewesen war, warum dieser jemand es
verheimlicht hatte und ob die verschollenen Isländer ebenfalls
in einem solchen Grab bestattet worden waren.
    »Gylfi! Hallo, hier ist
Mama!« Ihre Worte echoten in der Leitung. »Bist du
jetzt zu Hause?« Ihr wurde ganz warm ums Herz, als sie ihre
kleine Familie vor sich sah: Gylfi mit dem kleinen Orri auf dem Arm
und Sóley.
    »Ja. Hör mal, ich
überlege gerade ...« Kein Wort darüber, wann sie
nach Hause kommen würde und wie die Reise gewesen war.
»Sigga und ich wollen im Sommer nach Spanien. Da war heute
Morgen so eine Beilage in der Zeitung. Kannst du uns Geld leihen?
Wir würden es dir auch zurückzahlen, wenn wir in den
Sommerferien jobben.« Er war so außer Atem, dass
Dóra sich anstrengen musste, ihn zu verstehen.
    »Euch Geld für eine
Spanienreise leihen?« Dóra war ganz irritiert. Spanien
bedeutete Sonnencreme, Bikini und Bier und war ganz weit
weg.
    »Ja, ist gar nicht teuer.
Und wenn man direkt bezahlt, kriegt man Prozente.«
    »Und was ist mit Jobben?
Wie wollt ihr jobben, wenn ihr wegfahrt? Urlaubsvertretungen
arbeiten normalerweise genau dann, wenn andere Leute in Urlaub
fahren.«
    »Das war vielleicht so,
als du jung warst. Heutzutage geht niemand davon aus, dass alle im
Sommer Urlaub machen.« Dóra versuchte, es positiv zu
sehen. Er hatte nicht gesagt damals, als du noch jung
warst.
    »Können wir das nicht
besprechen, wenn ich wieder zu Hause bin?« Dóra
starrte ihr Spiegelbild in dem großen Spiegel hinter der
Theke an. Im ersten Moment, als sie noch nicht gemerkt hatte, dass
es sich um ihr eigenes Gesicht handelte, wurde ihr klar, wie andere
sie sahen: eine blonde, nicht unattraktive, besorgte Frau, die
weniger die Stirn runzeln und sich passender kleiden sollte. Eine
helle Seidenbluse mit tiefem Ausschnitt hatte hier wirklich nichts
verloren.         
    »Ja, aber das Angebot gilt
nur ein paar Tage. Die besten Reisen sind sofort
ausverkauft.« Er erklärte nicht, um welche Reisen es
sich dabei handelte und was den Unterschied zwischen guten und
schlechten Spanienreisen ausmachte.
    »Ich denke drüber
nach, und dann schauen wir’s uns an, wenn ich nach Hause
komme, okay?« Dóra hörte, wie die Hoteltür
im Erdgeschoss aufging. Sie hätte mit Leichtigkeit einen Blick
ins Treppenhaus werfen können, um zu sehen, wer hereingekommen
war, aber das war ihr zu anstrengend. Wenn sie noch länger
hier wären, würde sie bestimmt ein übersteigertes
Interesse an ihren Mitmenschen entwickeln, aber so weit war es noch
nicht. »Ihr müsst doch auch an Orri denken. Der hat
bestimmt nicht viel Spaß bei so einer Reise, Schatz, er ist
noch viel zu klein.« Sie dachte nur: Und ihr seid viel zu
jung, um euch

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