Die eisblaue Spur
deine
Zigaretten, Bella. Wir tun einfach so, als würden wir
rauchen«, sagte Dóra.
»Ich auch!« Der Arzt
war genauso aufgeregt wie Dóra. »Ich komme
mit.«
»Nur, wenn ich auch
mitdarf!« Bella umkrallte das
Zigarettenpäckchen.
»Ja, ja. Beeilt
euch.« Je länger sie zögerten, desto mehr
verpassten sie. Schließlich gingen sie zu viert nach
draußen, während Eyjólfur und Alvar bei
Friðrikka blieben. Die Geologin jammerte immer noch, wie
unvernünftig das sei, aber Dóra zog einfach die
Tür hinter sich zu. Sie brachen sämtliche Rekorde im
Winterstiefel-und-Overall-Anziehen, zündeten sich in
Sekundenschnelle auf der Terrasse Zigaretten an und schlenderten zu
den Autos. Dóra zog an ihrer Zigarette und musste sich
zusammenreißen, nicht zu würgen. Sie sah, dass der Arzt
mit demselben Problem zu kämpfen hatte, während Matthias
munter graue Rauchwolken auspustete und sie
angrinste.
In einiger Entfernung zu den
Autos blieben sie stehen. Von dort konnten sie alles sehen, ohne
Gefahr zu laufen, dass die Polizisten sie wieder ins Haus
schickten. Die sahen den Rauch, kümmerten sich jedoch nicht
darum, denn sie waren vollauf damit beschäftigt, den Pick-up
zu entladen. Dóra war erleichtert, als sie sah, dass es sich
um viele kleine Tüten handelte – zu klein für die
Leiche eines Erwachsenen, aber offenbar schwer. Schweigend trugen
die Männer die grauen Tüten ins Wohngebäude. Sie
wirkten so ernst, dass Dóra und die anderen ganz
vergaßen, ihr Rauchtheater fortzuführen. Selbst Bellas
Zigarette glimmte vor sich hin. Schließlich wurden die beiden
letzten Tüten zum Haus getragen, doch da rutschte einer der
Polizisten auf dem glatten Eis aus, landete auf dem Steißbein
und stieß einen Schrei aus. Dóra und die anderen
hielten die Luft an, aber nicht, weil sich der Mann vielleicht
verletzt haben könnte – aus der Tüte, die dem Mann
aus der Hand geglitten war, rollte ein Arm heraus.
»Was zum Teufel war
das?« Bella hängte ihren Overall an einen Haken, der
schon so überladen war, dass die schweren, orangefarbenen
Kleidungsstücke auf den Boden krachten. Bella ignorierte es
einfach.
»Ein Arm.
Zweifellos.« Der Arzt lehnte sich an die Wand, um seinen
Stiefel auszuziehen. »Keine Ahnung woher und von wem, aber
das war eindeutig ein Arm.«
»Da kommen ja wohl nicht
viele in Frage«, sagte Dóra. Sie stellte sich auf den
Stahlrost, der trocken war, während der gesamte Fußboden
in geschmolzenem Schnee schwamm. »Aber was war in den anderen
Tüten? Habt ihr sie gezählt?« Daran hatte keiner
gedacht.
»Was sollen wir den
anderen sagen?« Der Arzt hielt zögernd den Türgriff
zum Flur in der Hand. »Ich glaube nicht, dass Friðrikka
das verkraftet.«
»Wir sagen gar nichts.
Nur, dass wir nichts gesehen haben«, schlug Matthias vor.
»Es wird sich bald herausstellen, wer das ist und was
passiert ist. Bis dahin müssen wir sie ja nicht unnötig
belasten. Wahrscheinlich ist jemand von einem Tier angefallen
worden. Normalerweise fällt einem ja nicht einfach ein Arm
ab.«
Dóra schwieg, musste aber
an das unheimliche Video denken, das der Hauptgrund für ihren
Trip nach Grönland gewesen war. Vor ihrem inneren Auge spulten
sich das unnatürliche Zucken der ausgestreckten Beine, das
Zischen und der dumpfe Schlag ab. Dann die Blutspritzer. Sie
erinnerte sich genau, dass sie den Eindruck gehabt hatte, dass eine
Leiche zerteilt oder jemand umgebracht würde. Ihr Gefühl
sagte ihr, dass keine wütenden Eisbären oder Walrosse
dafür verantwortlich waren. Draußen knirschte die
Holzterrasse, die Tür ging auf, und drei Polizisten kamen
herein. Der erste war der Grönländer, offenbar der
Ermittlungsleiter. »Also dann.« Er war, wie
üblich, wortkarg, aber in seiner Stimme schwang Wut mit.
»Ich muss mit jedem von Ihnen einzeln sprechen, und dann muss
jemand die Körperteile identifizieren. Sie haben ja wohl
gesehen, was los ist; ich bin enttäuscht, dass Sie meine
Anweisungen nicht befolgt haben.«
»Wir waren nur eine
rauchen. Das Raucherzimmer steht ja noch unter Wasser von dem
Schnee«, sagte Matthias, »und wir wussten nicht, was
uns erwartet, sonst hätten wir bestimmt am Fenster
geraucht.«
Es war unmöglich,
festzustellen, ob der Polizist ihm glaubte. »Das wird nicht
noch mal passieren. Ich möchte Sie bitten, keine voreiligen
Schlüsse zu ziehen.«
Der letzte Satz verfehlte bei
Bella jegliche Wirkung. »Ist jemand von einem Eisbären
angegriffen worden?«
Der Polizeibeamte
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