Die eisblaue Spur
eine Vereinbarung mit Air
Iceland getroffen, sie nach Kulusuk zu fliegen, da im Winter keine
Linienflüge dorthin verkehrten. Von Kulusuk sollte ein
Hubschrauber sie weiter nach Norden bringen, zu dem kleinen Dorf in
der Nähe des Camps. Es war noch unklar, wie sie die letzte
Wegstrecke zurücklegen würden, aber man ging davon aus,
dass wie üblich ein oder zwei Autos von Bergtækni in
einem Schuppen beim Hubschrauberlandeplatz standen. Die
Mitarbeiter, die nach Hause geflogen waren, hatten sie dort
zurückgelassen. Dóra hoffte, dass sie nicht
ausgerechnet zu Fuß würden gehen müssen – ihr
Koffer taugte wirklich nicht für lange Wanderungen.
»Ich tue mich ein bisschen
schwer mit den Namen, aber ich weiß, wer wer ist«,
sagte Matthias. »Wir sind ja nicht viele, in der
Abgeschiedenheit wirst du die Leute schnell
kennenlernen.«
»Hm. Die wirken alle ganz
sympathisch.« Dóra beobachtete, wie der jüngste
Mitreisende, Eyjólfur þorsteinsson, eine Münze in
einen Kaugummiautomaten steckte. Der Automat schluckte das Geld,
weigerte sich jedoch, den Kaugummi auszuspucken, und nachdem der
junge Mann alles probiert hatte, schlug er kräftig gegen die
große Plastikkuppel, so dass die Kaugummikugeln
durcheinanderflogen. Als das auch nichts bewirkte, ging er
schmollend weg. Das also war der Mann, der sich vor Ort um das
Computersystem kümmern sollte. Er hatte es seinerzeit
installiert und kannte sich damit aus. Er war Mitte zwanzig,
schlank, dunkelhaarig und sehr attraktiv – ein Frauentyp. In
dieser Hinsicht war er das absolute Gegenteil von Alvar
Pálsson. Der war um die vierzig und fuhr wegen seiner
Erfahrung beim Rettungsdienst mit. Er war Mitglied eines
isländischen Rettungsteams gewesen, das die
Grönländer beim Aufbau eines eigenen Rettungsdienstes
unterstützt hatte. Dóra wusste nicht, was er
hauptberuflich machte, konnte sich aber gut vorstellen, dass er
Leuchtturmwärter war oder irgendeinen Beruf ausübte, bei
dem er nicht viel kommunizieren musste. Als Matthias ihm
Dóra vorgestellt hatte, war er feuerrot angelaufen und hatte
den Gruß kaum erwidert, nur geschnaubt und dann weiter seinen
Wanderstock am Rucksack befestigt. Wenn Dóra ihn beschreiben
müsste, würde das Adjektiv »schlecht« eine
große Rolle spielen – der arme Mann hatte schlechte
Zähne, roch schlecht, war schlecht proportioniert und zu allem
Überfluss: schlecht rasiert.
»Wo ist denn die
Geologin?«, fragte Dóra. In der sechsköpfigen
Gruppe gab es außer Dóra noch eine Frau, Friðrikka
Jónsdóttir. Sie hatte anfangs bei dem Projekt
mitgearbeitet, dann aber zum Energieversorger Orkuveita gewechselt.
Matthias erzählte Dóra, die Bank hätte sie mit
einer größeren Summe geködert, damit sie sich ein
paar Tage freinehmen und mitfahren würde. Sie kannte sich vor
Ort aus und konnte den Stand der Bohrungen gut beurteilen, ohne
sich lange einarbeiten zu
müssen.
»Sie muss hier irgendwo
sein. Zumindest hatte sie sich schon beim Check-in gemeldet.
Wahrscheinlich ist sie draußen und raucht oder
telefoniert.«
»Hat sie den Film
gesehen?«
»Nein.« Matthias
legte seine Aktentasche auf den Tisch. »Dazu war nicht genug
Zeit, und es wäre auch nicht unbedingt angebracht. Sie muss
nicht über jedes Detail Bescheid wissen, schließlich hat
sie gekündigt.« Er öffnete die Tasche und holte
einen Stapel Schnellhefter heraus. »Das ist für dich.
Falls du die Zeit im Flugzeug zur Vorbereitung nutzen willst. Das
gehört alles zu dem Werkvertrag.«
Dóra nahm den Stapel
entgegen, der wesentlich umfangreicher war als die Verträge,
mit denen sie normalerweise zu tun hatte. »Aber diese
Friðrikka hätte doch vielleicht sagen können, wo der
Film aufgenommen worden ist. Vielleicht hätte sie sogar die
Hausschlappen erkannt.«
»Ja, schon«,
entgegnete Matthias, »aber es wurde trotzdem entschieden, den
Film nur dir und dem Arzt zu zeigen. Warten wir mal, wie sich die
Sache entwickelt. Vielleicht zeigen wir ihn später noch
anderen. Der IT-Spezialist könnte die Füße ja
vielleicht auch identifizieren. Er kennt das Team, auch wenn er
nicht richtig dazugehört.« Matthias schloss die
Aktentasche wieder. »Aber ich hoffe, dass das nicht
nötig sein wird.« Er schaute sich um und fügte dann
hinzu: »Es fehlt noch jemand.«
»Ja? Wer
denn?«
»Bella«, antwortete
Matthias, ohne Dóra anzusehen.
»Ha, ha.« Bei dem
Gedanken an ihre Sekretärin wurde Dóras Kater noch
schlimmer. Sie kniff die Augen zusammen und
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