Die eisblaue Spur
das
Büro, das recht groß war und zwei Schreibtische
beherbergte. Sämtliche Wände waren mit ausgedruckten oder
kopierten Karikaturen und witzigen Fotos bedeckt. Als sich
Dóra an einen der Schreibtische setzte, dachte sie, dass die
beiden Kollegen jetzt wohl nicht mehr viel zu lachen hatten. Dann
schaltete sie den Computer ein.
8.
Kapitel
20. März
2008
Arnar Jóhannesson neigte
den Kopf, und seine Halswirbel knackten. Je klarer das Bild in
seinem Kopf wurde, desto mieser fühlte er sich. Er konnte
diesem Elend ein für alle Mal ein Ende bereiten. Darüber
dachte er nicht zum ersten Mal nach, wusste aber, dass er zu feige
war. Wahrscheinlich hatte er zu große Angst, dass es
misslingen könnte; der Gedanke, gelähmt oder mit
Hirnschaden im Krankenhaus aufzuwachen, war so unerträglich,
dass er die Hölle, aus der sein Leben bestand, vorzog. Es ging
ihm ja nicht immer so schlecht. Er wusste, dass die Beklemmungen
vorübergehen würden, diese unumgänglichen
Begleiterscheinungen des Rückfalls. Der Alkohol war
stärker gewesen, er hatte ihn angelockt und ihm versprochen,
sein Leiden zu lindern und seine quälenden Gedanken
auszulöschen. Aber das Leiden war noch da, ebenso wie die
Gedanken – neu war nur die Selbstverachtung. Er hatte einfach
kapituliert und sich völlig
gehenlassen.
Arnar stand auf und schlang den
Bademantel fester um sich. Er hatte bei der mehrtägigen
Sauftour ziemlich abgenommen und fühlte sich wie ein Versager.
Die ganze Plackerei der vergangenen Monate mit Krafttraining und
Laufen war zunichte. Warum war es so viel schwerer, Kondition
aufzubauen als abzubauen? Arnar legte großen Wert darauf, gut
auszusehen und fit zu sein, aber wenn er trank, war ihm alles
vollkommen gleichgültig, das einzige Wichtige war der
nächste Drink – dafür zu sorgen, dass der Rausch
nicht aufhörte. Der erste Schritt des zwölfstufigen
Programms war kein Problem für ihn: Wir gaben zu, dass wir dem
Alkohol gegenüber machtlos sind und unser Leben nicht mehr
meistern konnten. Die anderen Schritte waren viel schwieriger. Er
konnte dankbar dafür sein, einen Therapieplatz bekommen zu
haben, bevor er sich noch mehr Schaden zufügen konnte.
Normalerweise brauchte er nach einem Rückfall viel
länger, um wieder auf die Beine zu kommen. Aber sein letzter
Rückfall war auch schon eine Ewigkeit her. Er war 483 Tage
trocken gewesen.
Arnar konnte sich dunkel daran
erinnern, die AA-Notnummer angerufen zu haben, wusste aber nicht
mehr, was ihn dazu veranlasst hatte. Seit seinen ersten
Besäufnissen als Jugendlicher hatte er immer wieder Filmrisse
und konnte sich nur bruchstückhaft erinnern, was passiert war.
Diese Erinnerungsfetzen quälten ihn. Das Wenige, was er noch
wusste, war widerwärtig und erniedrigend. Er versuchte, froh
darüber zu sein, überhaupt angerufen zu haben.
Unmöglich zu sagen, wo er jetzt wäre, wenn er nicht
angerufen hätte – er wollte es gar nicht wissen. Mit
jedem Schluck drängte er sich selbst immer mehr an den Rand
der Gesellschaft. Er stand vom Bett auf und schaute sich in dem
spartanischen Zimmer um. Er hatte sich geschworen, nie mehr in
einem solchen Zimmer zu schlafen, aber seinen Schwur und seine
Selbstachtung hatte er mit dem ersten Schluck Bier weggespült.
Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Gelübde zu
erneuern. Jeden Tag aufs Neue zu den Meetings zu gehen, den anderen
zuzuhören. Er selbst würde erst mal nichts sagen.
Dafür war er viel zu tief unten. Das Letzte, was er im
Augenblick wollte, war, vor anderen wie ein Kind zu heulen. Das war
lächerlich. Er konnte sich nicht bemitleiden,
schließlich hatte er sich das selbst eingebrockt. Er hatte
sein Leben in der Hand gehabt, und anstatt es zu hegen und zu
pflegen, hatte er es zerquetscht. Er würde es dabei bewenden
lassen, sich Geschichten von kaputtn Familien, verpassten Chancen
und dem Elend der Sucht anzuhören.
Arnar sehnte sich nach einem
winzigen Schluck. Nur ein Glas. Ein verdammtes Glas. Es war ohnehin
alles verdorben. Verdammt blöde Idee, bei AA anzurufen. Wenn
er das gelassen hätte, könnte er jetzt weitertrinken.
Entzug und Therapie waren ja gar nicht das Problem. Es müsste
eine andere Art von Therapie geben, um maßlosen Menschen wie
ihm beizubringen, in Maßen zu trinken. Das erste Glas war
nicht weiter schlimm, aber die vielen anderen, die darauf folgten.
Bei diesem Gedanken fiel ihm plötzlich wieder ein, warum er
zum Hörer gegriffen hatte. Er hatte etwas
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