Die eisblaue Spur
die Suche. Demnach wurde die Frau das
letzte Mal beim Abendessen am 31.Oktober gesehen. Keiner wusste,
was sie danach gemacht hat, und keiner hat gesehen, wohin sie
gegangen ist. Sie hat auch niemandem Bescheid gesagt. Die Dateien,
an denen sie gearbeitet hat, sind zum letzten Mal um kurz vor
Mitternacht gesichert worden, also war sie wahrscheinlich im
Büro.«
»Könnte nicht auch
jemand anders an den Dateien gearbeitet haben?«
»Nein«, antwortete
Dóra. »Sie selbst könnte aber auch in ihrer
Wohnung gearbeitet haben. Es gibt eine drahtlose Verbindung, falls
man bei schlechtem Wetter nicht raus kann. Eyjólfur kann
normalerweise sehen, wann jemand im Büro oder am Laptop
gearbeitet hat, aber leider hat der Wachmann die Dateien nach dem
Öffnen wieder gespeichert, und dadurch ist diese Info
verlorengegangen.«
»Wie blöd von
ihm«, murmelte Matthias.
»Dem Bericht des Wachmanns
zufolge war die Frau kein besonderer Naturfreak, kannte sich aber
in der Umgebung gut genug aus, um nicht auf irgendwelche dummen
Ideen zu kommen.«
»Wollte er durchblicken
lassen, dass diese Oddný Hildur absichtlich raus in die
Wildnis gegangen ist?«
»Nein, so hab ich das
nicht verstanden. Im Gegenteil. Er schreibt, sie hätte sich
auf zu Hause und ihren Mann gefreut und sich überhaupt nicht
anders verhalten als sonst. Er geht wohl eher von einem Unfall aus.
Er meint, die Messungen des Wetterschreibers hätten gezeigt,
dass das Wetter in dieser Nacht sehr schlecht war. Wenn die Frau
ziemlich spät noch rausgegangen sein sollte, hätte sie
sich sogar zwischen den paar Gebäuden hier verlaufen und immer
weiter in die Wildnis hinausgeirrt sein können.«
Dóra warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. »Ein
Suchtrupp von vier Mitarbeitern hat die gesamte Umgebung des Camps
durchkämmt – ohne Erfolg. Nach einer Woche haben sie die
Suche eingestellt, aus Angst, es könnten sich noch mehr Leute
verirren.«
»Und nirgendwo ein Wort
über die Knochen?«, fragte Matthias. »Ich dachte,
der Suchtrupp könnte vielleicht irgendwo darauf gestoßen
sein.«
»Nein. Dieser Gísli
hätte das garantiert in seinem Bericht erwähnt – er
beschreibt alles ganz ausführlich. Er ist nach Kaanneq
gefahren, falls die Frau es bis dorthin geschafft haben sollte.
Außerdem hat er die Behörden telefonisch um Hilfe
gebeten, aber die konnten nicht viel mehr machen, als die Meldung
entgegenzunehmen.«
»Und was bringt uns das
Ganze? Im Grunde ist das doch nur eine genauere Beschreibung von
dem, was wir vorher schon wussten. Die Geologin ist aus dem Camp
verschwunden, und keiner weiß, was mit ihr passiert
ist.«
»Ja, aber da ist noch
was«, sagte Dóra. »Der Wachmann schreibt, dass
am ersten November Blut- und Schmutzflecken an der Außenwand
des Gebäudes gefunden wurden, in dem Oddný Hildur
untergebracht war. Er wusste nicht, ob das Blut von einem Menschen
oder einem Tier stammte und wie lange die Flecken schon dort waren,
deshalb wollte er eine Probe davon mit nach Reykjavík nehmen
und auf DNA-Spuren untersuchen lassen. Er hat dann den Mitarbeitern
verboten, alleine rauszugehen, weil er meinte, Oddný Hildur
könnte von einem Eisbären angegriffen worden
sein.«
»Hat er den anderen von
den Flecken erzählt?«, fragte Matthias. »Ich
höre das zum ersten Mal.«
»Nein. Er schreibt, die
Stimmung im Team sei so schlecht gewesen, dass er sie nicht noch
mehr anheizen wollte. Damit es nicht eskaliert.«
»Damit keine Panik
ausbricht?«
»Nein, so schreibt er das
nicht. Er drückt sich ziemlich merkwürdig aus. Mir ist
nicht klar, warum er von ›Stimmung anheizen‹ und
›eskalieren‹ spricht.« Dóra stieß
gegen die Maus, um den Bildschirm wieder zu aktivieren. »Dann
habe ich nach dem Wort DNA gesucht und einen Eintrag gefunden, in
dem der Wachmann schreibt, das Ergebnis der Untersuchung sei
enttäuschend gewesen. Die Probe war wohl nicht
aussagekräftig genug, und es kam nur dabei heraus, dass es
sich wirklich um Blut handelt. Ich habe dann noch nach dem Wort
Eisbär in allen möglichen Varianten gesucht, aber ohne
Erfolg.«
»Hoffentlich können
wir mit diesem Gísli sprechen, wenn wir zurück in
Island sind. Gut möglich, dass er noch mehr weiß, was
nicht in seinen Berichten steht.« Matthias nahm den Stapel
wieder in die Hand. »Hast du sonst noch was
gefunden?«
»Die letzten Einträge
der Bohrmänner waren ziemlich kurz.« Sie nahm Matthias
den Stapel ab und blätterte ihn durch. »Hier zum
Beispiel, ein ganz
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