Die eisblaue Spur
normaler Tag, zwei Seiten lang Geologie, Wetter,
Maschinen und so weiter. Aber an den Tagen kurz vor der Abreise des
gesamten Teams stehen nur drei Sätze: Wetter gut. Bohrung am
Südhang, L-3. Keine Ergebnisse, brauchen Anweisungen wegen
ungewöhnlichem Fund. Genaueres über diesen Fund steht da
nicht.«
»Worauf willst du
hinaus?«
»Vielleicht haben sie
Oddný Hildurs Leiche gefunden!«
»Ist das nicht ziemlich
weit hergeholt?« Matthias schaute sie skeptisch
an.
»Wenn ich nur diese
Einträge hätte, schon«, antwortete sie. »Aber
ich hab noch mehr gefunden.« Dóra klickte einen Ordner
mit der Beschriftung D&G an. Eyjólfur hatte sie
ungefragt darüber aufgeklärt, dass es sich dabei nicht um
Dolce & Gabbana handelte, sondern um Drilling and Grouting,
Bohrung und Zementeinspritzung. Sie zeigte Matthias ein Foto. Auf
den ersten Blick war nur Eis zu sehen, aber wenn man genau
hinschaute, konnte man in dem Eisklumpen zusammengekrümmte
Finger erkennen. Bevor Matthias etwas sagen konnte, klickte
Dóra die Dateinamen von weiteren Bildern desselben Tages an.
»Guck mal. Bei den fortlaufenden Dateinummern sieht man, dass
die nächsten zwanzig Bilder gelöscht wurden. Ich habe
keine Ahnung, warum, aber eins ist klar: Das ist eine menschliche
Hand, und dieser Mensch lebt nicht mehr.«
9.
Kapitel
20. März 2008
Eyjólfur bestätigte
Dóras Theorie über die fehlenden Fotos, konnte aber
nicht sagen, ob die Bilder in der Kamera oder im Computer
gelöscht worden waren. Der IT-Mann drehte sich zu Dóra
und Matthias: »Ich kann ja mal die Sicherheitskopien
durchsehen. Wenn die Bilder erst am nächsten Tag gelöscht
wurden, sind sie vielleicht noch da.« Er lächelte
betrübt. »Falls sie überhaupt auf dem Computer
waren.«
Matthias war einverstanden.
Bevor sich Eyjólfur auf die Suche nach den Kopien machte,
sagte er, das sei zeitintensiv, aber er könne im Moment
ohnehin nicht viel tun und würde ganz bestimmt nicht bei
diesem Wetter aufs Dach klettern, um die Schüssel zu
reparieren.
Als er weg war, sagte
Dóra: »Vielleicht finden wir die Stelle ...
Friðrikka weiß bestimmt, was diese merkwürdige
Ortsbeschreibung aus dem Tagesbericht zu bedeuten hat.«
Dafür musste jedoch erst das Wetter besser werden.
Matthias zeigte auf das Foto auf
dem Bildschirm. »Ob die zu den Knochen aus den Schubladen
gehört?«
»Wohl kaum«, sagte
Dóra. »Die Hand besteht nicht nur aus Knochen, und die
Bilder sind erst gut eine Woche alt. Außerdem liegen in den
Schubladen der Bohrmänner, die die Fotos wahrscheinlich
gemacht haben, gar keine Knochen.«
Bella steckte den Kopf zur
Tür herein. »Es ist schon halb eins. Ich sterbe vor
Hunger. Gibt’s hier nichts zu essen? Oder ist Verhungern und
Erfrieren bei diesem Trip inbegriffen?« Dóra
antwortete nicht, spürte jedoch ihren eigenen Magen
rumoren.
»Hm, wir sollten alle
zusammentrommeln und gemeinsam rübergehen«, meinte
Matthias. »Bei diesem Wetter muss die Gruppe
zusammenbleiben.« Sie hielten nach den anderen Ausschau.
Eyjólfur saß an seinem Platz beim Server,
Friðrikka war in den Computer eines Geologen vertieft, und der
Arzt war in der Teeküche vollauf damit beschäftigt,
kleine, mit Wasser gefüllte Plastikgläser zu markieren.
Den Rettungsmann Alvar fanden sie im Büro des Wachmanns, wo er
sich über einen Haufen Seile beugte. Als Alvar
Eyjólfurs verwunderten Gesichtsausdruck sah, wurden seine
Wangen noch röter, und er murmelte, er fertige eine Leine an,
mit deren Hilfe sie bei Unwetter von einem Haus zum nächsten
gelangen könnten. Sie zogen ihre Jacken an und gingen dann im
Gänsemarsch hinüber zum Wohngebäude, ohne
Sicherheitsleine, aber mit Gegenwind.
»Soweit ich sehen kann,
sind sie nur im Schneckentempo vorangekommen, nachdem ich
aufgehört habe«, sagte Friðrikka und legte ihre
Gabel ab. Sie saßen im Essraum und schaufelten
überbackene Sandwichs mit Schinken und Käse in sich
hinein – nicht unbedingt ein Festessen, aber: schnell fertig
und wenig Abwasch. »Ich habe mir die Tabelle über die
Projektabwicklung angeschaut, die wöchentlich an Arctic Mining
geschickt wird. Viel ist nicht passiert. Der Zeitplan ist total
durcheinandergeraten, und ich kann gut verstehen, dass sich der
Bergbaukonzern Sorgen macht. Denen war es unheimlich wichtig, dass
der Plan eingehalten wird.«
»Kannst du feststellen,
wie es dazu gekommen ist?«, fragte Dóra und
überlegte, ob sie sich ein drittes Sandwich genehmigen sollte,
aber es war nur noch eins übrig, und
Weitere Kostenlose Bücher