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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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unten
auf dem Steg. Sollen wir mal gucken, ob sie noch da sind?«
Eine dichte Nebelbank verbarg nun den Kai und das Ufer.
    Als sie durch das Dorf zu dem
kleinen Hafen fuhren, begegneten sie keiner Menschenseele.
»Ich weiß ja nicht, ob sie uns ausweichen oder sich
überwiegend drinnen aufhalten, aber das ist wirklich
merkwürdig.« Der Arzt fuhr langsam, übers Lenkrad
gebeugt, und spähte hinaus. »Ich war schon in vielen
grönländischen Dörfern, die Leute waren immer sehr
freundlich und gesellig. Normalerweise würden sie sich um uns
scharen.« Dóra und Matthias sagten nichts,
betrachteten nur die einsamen Straßen, die langsam an ihnen
vorbeiglitten. Die farbenfrohen Gardinen waren zugezogen. Und alle
Türen verschlossen.
    »Vielleicht stehen sie
sehr früh auf und halten Siesta«, sagte Dóra,
mehr zu sich selbst als zu den anderen.
    »Wohl kaum.« Der
Arzt fuhr etwas schneller, nachdem sie das letzte Haus hinter sich
gelassen hatten. »Dann würden sie sich nicht gerade dann
hinlegen, wenn es kurz hell ist.« Er bremste plötzlich
ab, denn der Nebel wurde dichter. »Nicht, dass wir ins Meer
fallen«, murmelte er. »Man sieht gerade mal zwei Meter
weit.« Als die Holzkonstruktion der Brücke unter den
Reifen knirschte, hielt er am Rand an. Türeknallen durchbrach
die Stille, dann hörte man nur noch das leise Plätschern
der Brandung und vereinzeltes Klopfen, wenn eine Eisscholle gegen
einen Pfeiler stieß. Sie schauten einander an, so als
warteten sie darauf, dass einer von ihnen die Initiative ergreifen
und vor den anderen her auf den Steg gehen würde. »Nur
damit ihr’s wisst, ich hab noch nie gehört, dass ein
Grönländer Touristen angegriffen hätte«, sagte
Finnbogi und schaute über den Steg, der direkt vor ihnen im
Nebel verschwand. »Am besten unterhalten wir uns, damit wir
niemanden erschrecken.«
    »Falls sie überhaupt
noch da sind.« Matthias lauschte. Bei genauem Hinhören
drangen Geräusche durch den Nebel. »Wir haben
Glück«, sagte er, wobei sich Dóra nicht sicher
war, ob das ironisch oder ernst gemeint war. Er ging auf den Steg
hinaus, dicht gefolgt von Dóra und Finnbogi.
    Es war kaum möglich, zu
dritt nebeneinander zu gehen. Der Steg war ins Meer hineingebaut,
so dass an beiden Seiten Boote anlegen konnten. Die einheimische
Flotte bestand jedoch nur aus drei kleinen, wackeligen Kähnen
und ein paar offenen Motorbooten. Kein Kajak in Sicht. Sie wussten
nicht, wie lang der Steg war, konnten aber kurz darauf die Umrisse
von zwei Männern erkennen. Der eine stand in einem kleinen
Boot und der andere auf dem Steg. Beide hielten in ihrer Arbeit
inne, standen reglos da und starrten die Näherkommenden an.
Sie sahen weder wütend noch brutal aus, schienen sich
lediglich über den Besuch zu wundern und erwiderten den
Gruß nicht. Der Mann im Boot legte ein abgegriffenes,
blutiges Messer beiseite, und sein Kumpel auf dem Steg strich sich
mit der behandschuhten Hand das Haar aus der Stirn.
    »Guten Tag«, sagte
Finnbogi auf Dänisch mit starkem isländischen Akzent und
nickte kurz. »Sind Sie von hier?« Dóra musste
sich zusammenreißen, um nicht über diese dämliche
Frage zu lachen. Die Männer trugen Lederkleidung, hatten
dunkle Haut, schwarzes Haar und schräg stehende Augen –
grönländischer konnte man gar nicht aussehen. Ein toter
Seehund lag mit aufgeschlitztem Bauch auf dem Steg und rundete das
Bild ab. Die Männer antworteten nicht, starrten die Fremden
nur schweigend an. Dóras Lächeln erstarb. Vielleicht
hatten sie die Männer mit dieser dummen Frage beleidigt. Sie
konnte ihren Blick nicht von dem großen Küchenmesser
abwenden, das der Mann vor ihnen in der Hand hielt. Es war vom
Ausnehmen des Seehunds voller Blut. Der Arzt versuchte es noch
einmal: »Wir sind zu Besuch im Camp nördlich von hier
und haben ein kleines Problem.« Dóra fand das
Dänisch des Arztes ausgezeichnet, aber das hatte nicht viel zu
sagen. Sie selbst sprach nicht gut Dänisch, hatte aber in der
Schule immerhin genug mitbekommen, um dem Gespräch folgen zu
können – falls man das Gespräch nennen konnte.
Matthias verstand hingegen gar nichts, er hatte schon genug
Schwierigkeiten mit Isländisch. Aber man brauchte keine
Sprachkenntnisse, um zu merken, dass die Jäger über den
unerwarteten Besuch nicht gerade begeistert waren. Finnbogi machte
jedoch unverdrossen weiter. »Wir vermissen zwei Männer,
die vor einer guten Woche noch im Camp waren, und wollten fragen,
ob Sie Kontakt mit ihnen hatten.« Er

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