Die eisblaue Spur
wie die beiden
schnell miteinander redeten. Ihre Sprache ließ sich mit
nichts vergleichen, was Dóra schon einmal gehört hatte;
man konnte kaum erkennen, wo das eine Wort aufhörte und das
nächste anfing. Dóra wusste zwar nicht, worüber
die beiden sprachen, aber sie war froh, dass sie ihnen nicht
schweigend hinterherstarrten. Wenn sie die Männer in einiger
Entfernung hören konnten, rannten sie ihnen zumindest nicht
mit gezücktem Messer hinterher. Dóra war erleichtert,
als sie wieder im Auto saß.
»Normalerweise sind
Grönländer nicht so.« Finnbogi ließ den Motor
an und wendete. »Die meisten sind sehr freundlich und
hilfsbereit. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich bin
einfach irritiert.«
»Hoffentlich treffen wir
noch freundlichere Leute in diesem merkwürdigen Dorf«,
sagte Matthias. »Am besten, wir versuchen es einfach weiter.
Aber vielleicht hat Friðrikka wirklich recht.«
Dóra hätte am
liebsten vorgeschlagen, zurück ins Camp zu fahren, aber sie
starrte nur schweigend aus dem Fenster. Der Nebel lichtete sich, je
weiter sie sich vom Meer entfernten. Kurz darauf tauchten die
Häuser vor ihnen auf und wirkten einsam und verlassen. Eines
sah besonders heruntergekommen aus. Dóra meinte, hinter dem
Fenster eine Bewegung wahrzunehmen.
Naruana ließ die Gardine
los, und der kleine Spalt, durch den er das Auto beobachtet hatte,
schloss sich wieder. Er stand reglos da und betrachtete den
schmutzigen, bunten Stoff an der wackeligen Gardinenstange. Bald
würde sie herunterfallen und einfach liegen bleiben. Keiner
würde sie wieder befestigen. Sein Leben war genauso
schäbig wie das Haus. Gut, dass er hier untergekommen war;
hier fiel er nicht weiter auf. Wenn er ein Haus betrat, das sauber
und ordentlich war, fiel er unangenehm auf, und sein Abstieg wurde
noch deutlicher. Und weil er versuchte, das zu vermeiden, wohnte er
hier, bei einer Frau, die fast genauso tief gesunken war wie er. Er
liebte sie nicht, mochte sie nicht einmal besonders. Aber er hasste
sie auch nicht. Sie war einfach nur da, hatte das Haus von ihrer
Mutter geerbt, ließ ihn bei sich wohnen und leistete ihm beim
Trinken Gesellschaft. Mit ihren Gefühlen war es genauso
– keine Zuneigung, nur praktische Erwägungen und
Einsamkeit.
Naruana hatte sonst niemanden.
Er konnte sich nicht vorstellen, bei seiner Mutter zu wohnen, er
konnte ihre Nähe nicht mehr ertragen, was auf Gegenseitigkeit
beruhte. Sie waren beide dem Alkohol verfallen, und ihr
Verhältnis war von gegenseitiger Feindschaft geprägt. Sie
erinnerten einander daran, wie das Leben einmal gewesen war, als
der Alkohol noch nicht die Macht übernommen hatte und es noch
möglich gewesen war, ohne Rausch glücklich zu sein. Zu
seinem Vater konnte Naruana auch nicht, denn der würde ihn
töten. So einfach war das. Naruana war ihm in den letzten
Jahren zum Glück nicht oft begegnet, doch wenn er ihn sah,
legte der alte Mann eine Gleichgültigkeit an den Tag, die ihn
fast zum Ersticken brachte.
Was für ein
merkwürdiger Zufall, dass er am Morgen sowohl seinen Vater als
auch diese Fremden gesehen hatte. Er hatte zwar schon von ihnen
gehört, sie aber noch nicht zu Gesicht bekommen oder konnte
sich zumindest nicht an sie erinnern. Gut möglich, dass er sie
durchs Dorf hatte fahren sehen, aber so betrunken gewesen war, dass
er es nicht mehr wusste. Aber das war eher unwahrscheinlich. Er
hätte sich bestimmt an sie erinnert. Ihr Besuch war eine so
schlechte Neuigkeit, dass kein Rausch das aus seinem Kopf
hätte löschen können. Naruana starrte auf die
Gardine und atmete tief ein. Plötzlich hatte er Lust, nach
draußen zu gehen. Den alten, verschlissenen Overall zu
suchen, das Gewehr zu laden und auf die Jagd zu gehen. Einen Moment
lang erfüllte ihn ein wohliges Gefühl, das er lange nicht
mehr gespürt hatte. Die Kopfschmerzen verschwanden, und das
Ziehen in seinem Handrücken, das ihn schon seit Tagen
quälte, ließ nach. Dann fiel ihm wieder ein, dass er das
gute Gewehr gegen einen Kasten Bier eingetauscht hatte. Kein
Wunder, dass sein Vater ihn hasste. Er hatte ihm das Gewehr zu
seinem sechzehnten Geburtstag geschenkt. Es hatte ihn einen
Großteil seines Sommereinkommens gekostet. Naruana hoffte,
dass sein Vater nichts über den Verbleib des Gewehrs erfahren
hatte, machte sich aber sofort klar, dass der alte Mann alles
wusste und alles zu sehen schien, auch wenn er gar nicht da war.
Naruana konnte nur beten, dass er nicht wusste, was sein Sohn getan
hatte, wie tief er
Weitere Kostenlose Bücher