Die eisblaue Spur
sie sei ebenso
viel wert wie die anderen. Einige hatte darüber gesprochen,
dass Gott und Jesus sie genauso liebten wie die anderen Kinder,
auch wenn ihre Eltern arm waren.
Plötzlich hatte Oqqapia
dasselbe Gefühl wie damals, als sie den Lehrern in ihrer
kindlichen Naivität geglaubt hatte. Sie war genauso viel wert
wie andere. Das war nämlich keine Lüge, und dieser
tobende Idiot vor ihr war der personifizierte Beweis dafür. Er
kam aus einer guten Familie und lebte trotzdem genauso wie sie. Bei
seiner Mutter war es nicht anders, und auch wenn sein Vater nicht
trank, war er bei den Dorfbewohnern lange nicht mehr so angesehen
wie früher. Naruana war tief gesunken, nicht sie! Ihr Weg
konnte nur nach oben führen. Wut kochte in ihr hoch, Wut auf
alles und jeden, auch auf sich selbst. Sie hatte ihr Leben in der
Hand und konnte sich immer noch vor dem Untergang retten. Sie hatte
noch alle Zähne und war lange nicht so heruntergekommen wie
ihre Mutter in ihrem Alter. Ihr Körper war trotz allem noch
stark und gesund. Vielleicht hatte der Gott der Lehrer seine
schützende Hand über sie gehalten, dafür gesorgt,
dass sie die Kraft besaß, sich zu verändern. Sie stand
auf.
»Du gehst jetzt besser.
Ich habe deiner Schwester nie etwas getan.« Oqqapia wollte
das Buch suchen, das der Mann von der Hilfsorganisation dagelassen
hatte. Sie hatten es zwar nie gelesen, aber es lag bestimmt noch
irgendwo herum. Oqqapia schaute Naruana an und sah ihre Mutter in
ihm. »Im Gegensatz zu dir.« Sie spuckte ihm die Worte
vor die Füße und wusste, dass sie ihn damit tief treffen
würde. »Wenn du besoffen bist, redest du ständig
davon, du hättest Usinna am schlechtesten von allen
behandelt.«
Er stieß einen
animalischen Schrei aus und hechtete auf sie zu. Kurz bevor seine
Faust ihr Gesicht traf, musste sie daran denken, dass sie ihre
verstorbene Mutter kaum vermisste.
Dóra wusch sich mit dem
lauwarmen Wasser, das Matthias am Morgen in einem großen Topf
geschmolzen und dann verteilt hatte. Da es keine Dusche gab, war
das besser als nichts, und als Dóra sich abgetrocknet hatte,
fühlte sie sich schon viel besser. Sie zog das Passendste an,
was ihr Koffer hergab: eine Bluse und ein Trägerkleid mit
Leggings, die ein bisschen so aussahen wie eine Outdoorhose. Sie
war heilfroh, dass sie mit ihrer Vermutung über
Matthias’ Gepäck recht hatte: Seine Freizeitklamotten
gingen langsam zur Neige, und er trug eine Hose mit
Bügelfalten und unter seinem Fliespulli ein schickes Hemd.
Matthias und sie hoben sich ziemlich von den anderen ab, aber im
Moment gab es wichtigere Dinge als ihre Modesünden.
Dóra würde sich einen kleineren Winteroverall
heraussuchen, denn sie wollten gleich zum Telefonieren ins Dorf
fahren.
Im Essraum waren schon alle
versammelt, außer Bella, die sich wie Dóra bei der
Katzenwäsche viel Zeit ließ. Friðrikka fehlte
ebenfalls, was Dóra nicht überraschte, denn sie
beharrte darauf, keinen Schritt mehr in dieses Haus zu setzen. Sie
wollte lieber im Bürogebäude bleiben. Die Männer
waren nicht gerade begeistert von dem Frühstück, das
jeden Tag kümmerlicher wurde. Außerdem verdarb ihnen der
Gedanke an die Leiche im Kühlraum den Appetit. Dóra
begnügte sich mit einer Tasse Kaffee und einem Keks. Am
liebsten hätte sie Diät gehalten, aber das war in
Anbetracht der Kälte nicht empfehlenswert. Der Arzt mahnte die
anderen unerbittlich zur Nahrungsaufnahme, und sie hatten es ihm zu
verdanken, dass sie keine Vorräte aus dem Camp angerührt
hatten. Wenn er nicht so strikt gewesen wäre, hätten sie
sich bestimmt etwas aus dem Kühlraum geholt.
» Wann fahren wir?«
Dóra brach den Keks in zwei Hälften und tunkte ihn in
den Kaffee.
»Jetzt gleich.«
Matthias hatte schon gegessen und brannte darauf, loszulegen.
»Wir fahren zu zweit. Die anderen bleiben hier und passen
auf, dass keiner den Kühlraum betritt. Sie bewachen sich
sozusagen gegenseitig.«
Dóra grinste. Gut
möglich, dass die Zurückbleibenden sich darauf einigen
würden, gemeinsam einen Blick in den Kühlraum zu werfen
– alle, außer Friðrikka natürlich. Dóra
wusste, dass sie selbst der Verlockung auch nicht widerstehen
könnte. Gruseliges konnte einen magisch anziehen. Sie schob
sich das letzte Keksstück in den Mund und nuschelte: »
Ich bin fertig.«
An der Garderobe suchte sie sich
den kleinsten Overall heraus. Als sie gerade in die Hosenbeine
steigen wollte, sah sie das Schildchen am Kragen: Oddný H.
Dóra
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