Die eisblaue Spur
zögerte.
»Ist alles okay?«
Matthias stand wartend da, die Hand am Türgriff.
Ȁh,
ja.«
Dóra war schon auf dem
Weg nach draußen, als sie in der großen Seitentasche
des Overalls auf ein Notizbuch stieß.
21.
Kapitel
22. März 2008
Das Frühstück war
nicht schlecht, aber Arnar hatte keinen Appetit. Für ihn war
das Frühstück noch nie die wichtigste Mahlzeit des Tages
gewesen, und inzwischen musste er sich sogar überwinden, das
Mittag- und Abendessen runterzukriegen. Aber ihm war klar, dass er
etwas essen musste. Um die lähmende Übelkeit zu
bezwingen. Geistesabwesend rührte er in seinem
Joghurtbecher.
Auf einmal stand die traurige
Frau von gestern Abend neben ihm. Sie hielt ein Tablett in der Hand
und fragte, ob sie sich zu ihm setzen dürfe. Arnar bejahte und
registrierte verwundert, dass sie sich auf den Stuhl neben ihm
setzte, obwohl es genug freie Plätze am Tisch gab. Erst
starrte sie schweigend auf ihr Tablett, dann nahm sie mit
zitternden Händen die Tasse und nippte an ihrem Kaffee. Sie
trank ihn schwarz. »Ich kann Toastbrot nicht
ausstehen.« Die Frau trank einen weiteren Schluck. »Das
erinnert mich an Hotels, und Hotels erinnern mich an Hotelbars, und
Hotelbars erinnern mich an Alkohol.«
»Bist du zum ersten Mal
hier?«
»Ja.« Die Frau
stellte die Tasse ab und kratzte sich am Handrücken. Ihre Haut
war rot und eingerissen, aber sie schien keinen Schmerz zu
spüren.
»Ich war schon ein paarmal
hier.« Arnar fischte den Löffel aus seinem Joghurt und
legte ihn aufs Tablett. Obwohl er immer noch keinen Hunger hatte,
fühlte er sich in Gesellschaft besser. Er hatte gar nicht
gemerkt, wie einsam er in den letzten Tagen gewesen war. »Es
geht einem nach und nach besser. Ungefähr jeden Tag eine
Minute länger.« Er lächelte die Frau dumpf an, die
immer noch auf ihr Tablett stierte. »Vierundzwanzig Stunden
haben 1440 Minuten, also fühlst du dich nach vier Jahren den
ganzen Tag lang gut.«
»Na super«, sagte
sie mit monotoner Stimme.
»Hast du Kinder?«
Arnar stellte die Frage so vorsichtig wie möglich.
»Nein.« Sie schien
ihre knappe Antwort zu bemerken und fügte schnell hinzu:
»In der Schwangerschaft darf man nicht trinken. Jedenfalls
nicht in Ruhe.« Sie kratzte noch heftiger an ihrem
Handrücken. »Für meinen Mann war das allerdings
kein ausreichender Grund, nicht zur Vermehrung der Menschheit
beizutragen. Für meinen Ex-Mann.«
»Oh.« Darüber
hatte Arnar noch nicht viel nachgedacht. In der Schwangerschaft gab
die Mutter natürlich Alkohol an das Kind weiter. Wie viele
Mütter in diesem Speisesaal wohl ein alkoholisiertes Kind im
Bauch getragen hatten? Der Gedanke, verkatert in einem anderen
Menschen zu liegen und keinen Zugriff auf Aspirin zu haben,
überstieg seine Vorstellungskraft. »Du kannst ja
später noch Kinder bekommen. Im Gegensatz zu
mir.«
»Das kann man nie
wissen.« Der Handrücken der Frau war vor lauter Kratzen
ganz geschwollen. Plötzlich hörte sie damit auf und legte
die Hände in ihren Schoß. »Was machst du
beruflich?«
»Ich bin Ingenieur.«
Arnar wollte nicht damit angeben, dass er im Ausland arbeitete. Sie
waren beide nicht in der Stimmung, den anderen beeindrucken zu
wollen. Zum Glück. In der Klinik drehten sich die
Gespräche oft darum, wer am meisten Alkohol vertragen hatte,
wobei meist ein Hauch von Wehmut mitschwang.
»Brücken und
so?« Die Frau schien froh zu sein, über etwas anderes
als ihre eigene Misere reden zu können.
Arnar lächelte zum ersten
Mal seit vielen Tagen und fühlte sich sofort besser.
»Die meisten Ingenieure haben in ihrem ganzen Leben nichts
mit Brücken zu tun. Ich arbeite bei einem
Bauunternehmen.«
»Wow. Ich bin arbeitslos.
Ich bin Masseurin, aber in dem Fitnessstudio, in dem ich gearbeitet
habe, haben sie mir gekündigt, weil ich während einer
Massage eingeschlafen bin.«
»Wegen einer solchen
Bagatelle!« Arnar lächelte die Frau wieder an, und
diesmal merkte sie es und lächelte zurück. Es war ein
schiefes, kurzes Lächeln. Ihr letztes Lächeln musste noch
länger her sein als seins.
» Du sagst es!« Die
Frau nippte wieder an ihrem Kaffee, stellte die Tasse ab und
starrte hinein. Sie schien sich nicht sicher zu sein, ob sie sich
durch diesen Smalltalk wirklich ablenken lassen wollte. Ihm ging es
genauso; es war viel einfacher, in Schwermut zu versinken. Die Frau
sah ihn an. »Bei der Massage verwendet man diese starken
Duftöle, deshalb hat nie einer was gerochen. Und bei dir? Hast
du auf der Arbeit
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