Die eisblaue Spur
getrunken?«
Arnar schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich war zwei Jahre lang trocken. Früher, als ich
noch beim Straßenbauamt war, ist das schon mal vorgekommen.
Da hab ich so viel alleine gearbeitet.« Er wurde wieder
melancholisch. Gab es etwas Schlimmeres, als am Arbeitsplatz
betrunken zu sein, mitten unter den Kollegen, von denen keiner
etwas merkte?
»Super. Da hätte ich
wohl besser Ingenieurswesen studiert. Dann hätte ich den
Entzug um ein paar Jahre rauszögern können. Die
Kündigung hat mir den Rest gegeben. Ist ziemlich frustrierend,
Säufer zu sein, wenn man sich keinen Alkohol leisten kann. Ich
hätte nie so was wie Spiritus trinken können, war also
ein ziemlich teures Hobby. Wobei Hobby nicht das richtige Wort ist,
ich hab das eher hauptberuflich betrieben.«
»Das kenne ich.« In
einer idealen Welt, in der alles umsonst wäre, hätte sich
Arnar durchaus vorstellen können, bis in alle Ewigkeit
weiterzusaufen. Er war nicht sehr ehrgeizig. Die Arbeit war ihm nie
besonders wichtig gewesen. Im Grunde wusste er nicht, warum er
überhaupt arbeitete. Obwohl – er war zu feige, um sich
umzubringen, und deshalb war es nicht schlecht, etwas zu tun zu
haben, solange das Leben weiterging.
»Ich wäre gern
Leuchtturmwärter. Die müssen nichts tun und bekommen
keinen Besuch. Ich würde meinen ganzen Lohn für
Weißwein ausgeben, in meinem Turm sitzen und die Runden der
Leuchtsignale zählen.« Die Frau schaute Arnar an.
» Und du?«
»Ich weiß nicht. Bei
allen Jobs, die ich hatte, war ich immer alleine. Wenn ich jemand
anders sein könnte, würde ich alles Mögliche
ausprobieren.«
»Tja, du musst dich wohl
so akzeptieren, wie du bist, und ich mich auch.« Sie
stöhnte leise. Die erste Therapie war immer die Schlimmste.
»Du bist doch gar nicht so übel, worüber beklagst
du dich eigentlich?«
Obwohl die fremde Frau mit
tonloser Stimme sprach, spürte Arnar, wie ihm bei diesem
Kompliment warm ums Herz wurde. Er war es nicht gewohnt, dass
jemand so etwas zu ihm sagte. Seit der Grundschule war er
gehänselt worden, sogar an seinen unauffälligen Klamotten
hatten alle etwas auszusetzen gehabt, hatten sie blöd und
lächerlich gefunden. »Danke.« Der Joghurt war
immer noch nicht appetitlicher, aber Arnar konnte sich auf einmal
vorstellen, ein Butterbrot zu essen. »Danke, dass du dich zu
mir gesetzt hast. Gestern war die Wand in meinem Zimmer noch meine
einzige Gesellschaft.«
Die Frau drehte sich auf dem
Stuhl zu ihm. »Gehst du eigentlich zu diesem
AA-Kram?«
»Ich bin schon bei den
Anonymen Alkoholikern«, antwortete Arnar. »Vielleicht
nicht gerade das aktivste Mitglied, aber
immerhin.«
»Und hältst du dich
an diese Spuren, von denen sie in dem Vortrag geredet
haben?«
Es gab so viele Vorträge,
die sie sich anhören mussten, dass sich in Arnars Kopf alles
vermischte. Aber ihm war klar, dass sie Schritte und nicht Spuren
meinte. Die verdammten zwölf Schritte. »Ja, habe ich
gemacht.« Er traute sich nicht, mehr dazu zu sagen.
Plötzlich hätte er sich gern in seinem Zimmer
verschanzt.
» Ist das sehr
schwer?« Ihr Zögern ließ darauf schließen,
dass sie sich am liebsten sofort in das Programm gestürzt
hätte, auch wenn sie das nicht zugab. Wahrscheinlich hatte sie
Angst, zu scheitern und eine weitere Enttäuschung zu erleben.
Da war es besser, so zu tun, als sei einem alles egal.
Arnar wusste nicht, was er
antworten sollte. Das System loben und sie dazu ermutigen oder ihr
raten, es langsam angehen zu lassen? »Es ist anstrengend. Am
besten sprichst du mit deinem Therapeuten darüber.« Er
stand auf. Er konnte nicht länger darüber reden. Nicht
mit ihr. Mit niemandem. Er hatte schon genug Schaden
angerichtet.
Die Frau saß immer noch am
Tisch, irritiert und verletzt. Als Arnar seinen Stuhl wegschob, sah
er, dass sie wieder begonnen hatte, ihren geschwollenen
Handrücken zu zerkratzen.
Langsam rollte der Wagen
über die schneebedeckte Piste. Das Tempo war genau richtig
für Dóra. Sie hatte panische Angst, bei Glatteis zu
fahren, und große Zweifel an Matthias’
Fahrkünsten. Dennoch traute sie ihm das Fahren eher zu als
sich selbst. Sobald das Auto anfangen würde zu schlittern,
würde die Angst ihre Reaktionsfähigkeit lähmen. Die
vor ihnen liegende Strecke war gerade und abschüssig.
Dóra lockerte ihre verkrampfte Hand ein wenig vom
Deckengriff und blätterte mit der anderen Hand in dem kleinen
Notizbuch, das sie in Oddný Hildurs Overall gefunden hatte.
»Scheint
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