Die eisblaue Spur
an
und öffnete die Tür. »Es gibt nur eine
Möglichkeit, das rauszufinden.« Dóra und Matthias
zuckten zusammen, als plötzlich ein Motorschlitten angelassen
wurde und aus dem Garten des Nachbarhauses schoss. Am Steuer
saß ein Mann, der nicht in ihre Richtung schaute. Hinter ihm,
dicht an seinen Rücken geschmiegt, hockte ein kleines
Mädchen, das mit seinen kurzen Armen nur knapp die Hüften
des Mannes umfassen konnte. Es starrte Dóra und Matthias aus
rabenschwarzen Augen an. Das Gesicht des Mädchens war von
einer großen Narbe entstellt, die sich vom Auge bis zum Kinn
zog. Es machte keine Anstalten, das hässliche Narbengeflecht
auf seinem rundlichen Kinn zu verbergen. Dóra fand den Blick
des Mädchens unheimlich und war froh, dass das
Motorengeräusch alle anderen Laute erstickte. Sie war sich
nicht sicher, ob sie die Worte verstehen wollte, die das Kind mit
dem Mund formte.
Schweigend beobachteten sie, wie
der Schlitten um die nächste Ecke verschwand. Dóra
schmiss die Wagentür zu und atmete tief durch. Das
merkwürdige Mädchen hatte sie aus dem Konzept gebracht,
und sie ärgerte sich darüber, die Frau nicht nach ihrem
Namen gefragt zu haben. Die Sache gefiel ihr gar nicht
mehr.
Von der Haustür
blätterte die Farbe ab, der Türgriff war halb
herausgerissen und erinnerte an eine welke Blume. Eine lose
Wellblechplatte an der Verkleidung des Hauses klapperte leise.
Dóra wurde den Gedanken nicht los, dass dieses
heruntergekommene Haus der Frau jegliche Lebensenergie entzogen
hatte. »Oh Mann.« Sie standen auf der Holzterrasse vor
der Haustür. Dóra schaute zu Matthias, um sich zu
vergewissern, dass er noch neben ihr stand, und klopfte. Nichts
geschah. Dann klopfte Matthias, diesmal etwas stärker. Die
orangefarbenen Skier, die immer noch an der Hauswand lehnten,
wackelten. Nach einem kurzen Moment waren von drinnen Schritte zu
hören. Sie kamen näher, und kurz darauf sagte eine
Männerstimme etwas Unverständliches. Dóra rief
» Hallo?«, aber von drinnen kam keine Antwort. Dann
bewegte sich der lose Türgriff, und die Tür ging einen
Spalt auf, so dass der Mann sie sehen konnte. »Was
ist?«, sagte er barsch auf Dänisch.
»Ist die Dame zu
Hause?« Dóra kümmerte sich nicht darum, wie
albern das klang. Sie hätte sich beim Dänischunterricht
in der Schule wohl doch etwas mehr anstrengen sollen.
»Die Dame?« Der
Grönländer machte die Tür nicht weiter auf. »
Welche Dame?«
Jetzt wäre es nicht
schlecht, ihren Namen parat zu haben, dachte Dóra. Egal, sie
musste es versuchen: »Usinna?«
22.
Kapitel
22. März 2008
Dóra hätte sich
nicht gewundert, wenn das Sofa als Krönung ihres Besuchs unter
ihnen zusammengebrochen wäre. Sie hatte sich immer noch nicht
ganz von der Begrüßung erholt. Bei der Erwähnung
des Namens Usinna war der Mann an der Tür komplett ausgerastet
und hatte sie angebrüllt. Wahrscheinlich wäre er
handgreiflich geworden, wenn Matthias nicht neben ihr gestanden
hätte. Der Mann war zwar recht muskulös, aber einen Kopf
kleiner als Matthias. Er hatte auf den Türrahmen eingeschlagen
und sie lautstark beschimpft, Dóra hatte zwar kein Wort
verstanden, aber es klang nicht besonders freundlich. Der Mann
hatte sich mehrmals umgedreht und etwas durchs Haus gebrüllt,
wahrscheinlich um der armen Frau den unerwarteten Besuch
anzukündigen. Am Ende hatte Matthias die Nase voll gehabt und
den Grönländer angeschrien, er solle endlich den Mund
halten. Auf Deutsch. Daraufhin war der Mann plötzlich
verstummt und ins Haus gestürmt. Er hatte die Tür offen
stehen lassen, und obwohl Dóra am liebsten zurück zum
Auto gerannt wäre, hatte sie ihren Kopf durch den
Türspalt gesteckt und höflich gefragt, ob sie mal
telefonieren dürfe. Keine Antwort. Als Dóra dann nach
Usinna gerufen hatte, war die Frau sofort zur Tür gekommen.
Sie hatte Dóra mit der Hand ein Zeichen gegeben, still zu
sein, und Dóra hatte es aufgrund des besorgten Gesichts der
Frau nicht gewagt, zu
widersprechen.
Sie war verquollen und hielt
ihren Oberarm umfasst. Aus ihrem Mundwinkel tropfte Blut, und ihre
Unterlippe war auf die doppelte Größe angeschwollen. Sie
trug eine verwaschene Gymnastikhose und einen alten
Kunstfaserpulli, der so verfilzt war, dass das Muster verblasste.
Als Dóra ihr Anliegen wiederholte, sagte die Frau, es sei
gerade ziemlich ungünstig. Im selben Moment knallte es
irgendwo im Haus laut, woraufhin die Frau ihre Meinung abrupt
änderte und sie hineinbat. Sie
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