Die eisblaue Spur
weg war, setzte sie sich auf den frei
gewordenen Hocker.
Der Computer war alt und die
Verbindung langsam, aber Dóra konnte ihre E-Mails abrufen
und Gylfi mitteilen, dass sie hoffentlich bald nach Hause
käme. Sie schrieb nichts über Leichen oder Knochen,
obwohl ihn das bestimmt interessiert hätte. Nachdem sie die
Mail abgeschickt hatte, versuchte sie, den Blog der Bohrmänner
aufzurufen. Es gab zwar bei jedem Klick Verzögerungen, und der
Bildschirm flimmerte, aber Dóra vertiefte sich trotzdem in
die Website. Als Matthias ihr die Hand auf die Schulter legte und
sie ansprach, zuckte sie zusammen. Er roch nach Rasierwasser und
Seife, und Dóra wäre am liebsten sofort mit ihm aufs
Zimmer gegangen. Aber vorher musste sie ihm unbedingt etwas
zeigen.
Alles andere musste warten.
Leider.
25.
Kapitel
22. März 2008
Diesmal würde der vierte
Schritt schwer werden. Beim letzten Entzug war er Arnar
leichtgefallen. Aber diesmal sah die Sache anders aus. Wir machten
eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.
Diesmal war er mit ernsthafteren Dingen als Schulden,
enttäuschten Eltern, betrogenen Freunden und Kollegen und
vernachlässigter Arbeit konfrontiert. Wem konnte er sich
anvertrauen? Gott? Arnar war sich nicht sicher, ob Gott existierte.
Aber er hatte akzeptiert, dass es eine höhere Macht gab, denn
wenn man die Existenz einer solchen Macht nicht anerkannte, konnte
man nie wieder ganz gesund werden. Auf einmal ging ihm der Gedanke
durch den Kopf, dass es vielleicht gar keinen guten Gott oder gute
Mächte auf der Welt gab, sondern nur das Böse. Falls dem
so war, hatte sich Arnar in den Dienst des Teufels gestellt und
konnte nicht auf Vergebung hoffen, weder im Leben noch nach dem
Tod.
Früher hatte er sich mal
durch Dantes Göttliche Komödie gequält. Obwohl er
das Werk mit dem merkwürdigen Titel nicht ganz verstanden
hatte, war er stark beeindruckt gewesen. Einige Bilder vom Leben
nach dem Tod hatten sich in sein Gehirn gegraben, zum Beispiel das
vom Schicksal der Wahrsager. Sie beleidigten Gott, weil sie
vorgaben, die Zukunft vorhersehen zu können. Als Strafe
mussten sie ihr Gesicht auf dem Rücken tragen und so sehr
weinen, dass sie durch ihre eigenen Tränen erblindeten. Arnar
war vollkommen klar, welcher Ort in Dantes Hölle für ihn
bestimmt wäre. Früher war er immer davon ausgegangen, im
dritten Ring des siebten Höllenkreises zu landen, wo die
Sodomiten in einer brennenden Wüste umherirrten, von
herabfallenden Feuerflocken bedroht. Aber jetzt wusste er, dass er
noch weiter unten landen würde, im neunten Höllenkreis,
wo die Verräter büßen mussten. Arnar wusste nicht
mehr genau, wie dieser Kreis aufgeteilt war, aber dort musste man
bis zum Kopf in einem gefrorenen See ausharren. Als schwerer
Sünder hatte er demnach zwei Alternativen: Feuer oder Eis.
Spontan hätte er sich für das Feuer entschieden, denn
ewige Kälte entsetzte ihn. Außerdem wäre er im
Feuer nicht allein, so wie in dem gefrorenen See, wo man nicht
sprechen durfte und nur auf die Köpfe der anderen
Unglückseligen starrte, die aus dem glänzenden Eis
ragten.
Komödie war ein seltsamer
Titel für ein Gedicht, das kaum etwas mit Lachen oder Freude
zu tun hatte. Und Arnar konnte die Schilderung der Hölle nicht
damit in Einklang bringen, dass Jesus sich am Kreuz für die
Sünden der Menschen geopfert hatte. Wenn Dantes Beschreibung
richtig war, schien der Märtyrertod Jesu völlig umsonst
gewesen zu sein. Vielleicht hatte sich der Dichter beim Schreiben
seines Werks genauso gefühlt wie Arnar – fest davon
überzeugt, dass die Sonne nie mehr aufgehen
würde.
Nein, es gab niemanden, dem sich
Arnar anvertrauen konnte, wer auch immer ihn bei den zwölf
Schritten begleiten würde. Er verachtete sich selbst, wenn er
nur daran dachte, und er würde es nicht ertragen, dieselbe
Verachtung in den Augen eines anderen zu sehen. Er befand sich in
einer Zwickmühle: Nur wenn er Rechenschaft ablegte, würde
es ihm gelingen, die Sucht zu besiegen. Die Erinnerung an sein
Vergehen würde ihn von innen auffressen und seinen schwachen
Schutzwall gegen die Sucht einreißen. Er konnte zwischen zwei
Möglichkeiten wählen, aber beide waren schlecht: reinen
Tisch machen und Verachtung ernten oder sich dem Alkohol ergeben.
Wofür er sich auch entschied, er würde weitere schlaflose
Nächte ertragen müssen. Die beste Lösung war immer
noch, sich umzubringen. Dann erwartete ihn der zweite Ring in
Dantes siebtem
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