Die Eiserne Festung - 7
Damit gingen auch sämtliche allzu menschlichen Schwächen einher - einschließlich dem Bedürfnis, hin und wieder Nahrung aufzunehmen und wenigstens ein gewisses Maß an Schlaf zu finden.
Allerdings hatte selbst Merlin auf unschöne Weise herausfinden müssen, dass er Ruhephasen benötigte. Eigentlich war es ja Cayleb gewesen, der das herausgefunden hatte. Deswegen hatte er seinen Leibwächter angewiesen, sich tatsächlich auch die ›Auszeit‹ zu nehmen, die er brauchte, um frisch und geistig rege zu bleiben.
Sich Ruhe gönnen war genau das, was Merlin in diesem Augenblick gerade tat. Oder zumindest sollte er das verdammt noch mal gerade tun. Denn wenn Cayleb oder Sharleyan ihn mit Owls Hilfe dabei erwischten, dass er Berichte durchging, wenn er eigentlich ›schlafen‹ sollte, würden sie ihm das Fell über die Ohren ziehen!
»Also, in diesem Falle, Eure Majestät, halte ich diesen Eindruck für zutreffend«, erklärte Staynair ihr. »Ich darf Euch sogar melden, dass ich erleichtert bin über das, was ich hier vorgefunden habe.«
›Hier‹ ist ja eigentlich nicht mehr ganz das richtige Wort, ging es Sharleyan durch den Kopf. Die Dawn Wind war mit der Nachmittagsflut aus der Eraystor-Bucht in See gestochen. Im Augenblick steuerte sie die westliche Hälfte der ›Straße der Delfine‹ an. Für jemanden, der schon einmal in Merlins Aufklärer-Schwebeboot gesessen hatte, kroch die Galeere sozusagen durch die Wellen; die Daum Wind war nun einmal keine Wyvern, die Riffe, Untiefen, Inseln, Strömungen und ungünstige Winde einfach ignorieren konnte. Aber für alle anderen Safeholdianer flog sie förmlich über das Meer dahin. Auch wenn es sehr unwahrscheinlich war: Mit etwas Glück, wenn sie allen Stürmen entginge, könnte sie die Strecke in für die Jahreszeit erstaunlich kurzer Zeit zurücklegen und würde für die dreitausendsiebenhundert Seemeilen bis Cherayth nur etwa zehn Fünftage brauchen.
Zehn Fünftage! Es passte Sharleyan überhaupt nicht - wirklich überhaupt nicht -, dass Staynair so lange auf diesem Schiff festsaß. Sie hatte allerdings eingesehen, dass sie eigentlich keine Wahl hatten. Es war unerlässlich, dass das geweihte Oberhaupt der Kirche von Charis sämtliche der neuen Länder des Kaiserreiches persönlich aufsuchte. Im Gegensatz zur Kirche des Verheißenen hatte die Kirche von Charis von vornherein erklärt, dass ihre Bischöfe und Erzbischöfe dauerhaft in ihren Bistümern residieren würden. Statt nur jährlich den Gemeinden, für deren Seelenheil sie verantwortlich waren, eine kurze Stippvisite abzustatten, würden sie nur zur jährlichen Synode der Kirche von Charis ihre Diözese verlassen. Wirklich nur einmal im Jahr, nicht öfter. Den Rest der Zeit würden sie daheim verbringen und sich um die spirituellen Bedürfnisse ihrer Gemeinde kümmern. Auf diese Weise wären sie in der Lage, sich ganz auf das zu konzentrieren, was wirklich zählte. Die jährliche Synode würde dann jedes Mal in einer anderen Stadt abgehalten, nicht immer am gleichen Ort. Es sollte auf keinen Fall eine Kaiserstadt entstehen, ein charisianisches Gegenstück zur Stadt Zion.
Der Erzbischof von Charis und die ihm unterstellten Prälaten wären hingegen das ganze Jahr über auf Reisen. Bisher war es undenkbar gewesen, dass ein Großvikar eine solche Reise anträte und sich so den Strapazen aussetzte, die damit einhergingen - ganz zu schweigen von den unvermeidlichen Gefahren, die Wind und Wetter bei solch langen Reisen mit sich brachten. Maikel Staynair aber empfand das als akzeptabel. Je größer und zahlreicher die Unterschiede zwischen der Kirche von Charis und der Kirche des Verheißenen, desto besser, und das aus mehrerlei Hinsicht. Staynair selbst war entschlossen, hier mit gutem Beispiel voranzugehen und eine Tradition zu begründen. Keinem seiner Nachfolger sollte es allzu leicht fallen, von dieser Tradition wieder abzurücken.
Die derzeitige Reise war Teil von Staynairs Bemühungen, diese Tradition zu begründen. Zugleich diente die Reise einem weiteren Zweck: Staynair war entschlossen, die Hauptstadt jedes einzelnen Landes aufzusuchen, das Teil des Charisianischen Kaiserreichs war, und dazu noch so viele der größeren Städte, wie sich bewerkstelligen ließ. Wie Wave Thunder vor Staynairs Abreise nach Emerald zu betonen nicht müde wurde, war das Ganze sicherheitstechnisch ein einziger Albtraum. Gott allein wusste, wie viele Tempelgetreue dem ›Erzketzer‹ Staynair, wie sie ihn nannten, liebend
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