Die Eiserne Festung - 7
war es kurz nach Mitternacht. Durch Merlins Fenster dagegen konnte man bereits die ersten Lichtstrahlen eines eisigen Wintermorgens erkennen. »Aber es ist bisher alles bloßer Drill, und das unter Idealbedingungen. Sie sind immer noch nicht so gut wie unsere eigenen Leute.«
»Das vielleicht nicht«, gestand Rock Point ein. »Andererseits ist niemand so gut wie unsere eigenen Leute, und ich hätte nichts dagegen, wenn das auch weiterhin so bliebe.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Gute Leistungen führen zu Selbstvertrauen, Merlin. Und das Letzte, was wir gebrauchen können, ist, dass der Gegner genug Selbstvertrauen entwickelt, um es ernstlich auf See mit uns aufnehmen zu wollen.« Einen Moment lang schwieg er, den Kopf nachdenklich zur Seite geneigt. Dann stieß er ein Schnauben aus. »Bitte gestattet mir, mich zu verbessern: Das Vorletzte, was wir gebrauchen können, wäre, dass sie aufgrund ihrer eigenen Fähigkeiten Selbstbewusstsein entwickeln. Das wirklich Letzte, was wir gebrauchen können, ist, dass sie sich diese Fähigkeiten überhaupt aneignen! Und bedauerlicherweise scheint Thirsk es genau darauf anzulegen.«
»Stimmt«, sagte Merlin. Es klang wie ein resignierendes Seufzen. »Es gefällt mir nicht, aber ich hege Bewunderung für Thirsk«, fuhr er fort. »Nichtsdestotrotz wünsche ich mir ernstlich, eine Kanonenkugel hätte ihn vor dem ›Klippenhaken‹ erwischt! Und wo ich schon dabei bin: lieb wäre mir auch gewesen, König Rahnyld hätte ihn nach der Schlacht am Armageddon-Riff als Sündenbock für das Scheitern dieser Schlacht hinrichten lassen. Das wäre zwar in höchstem Maße ungerecht gewesen, aber dieser Mann ist so unverschämt gut bei dem, was er tut, dass es mir den Schlaf raubt!«
»Wahrscheinlich ist es unvermeidbar, früher oder später wenigstens einen guten Seemann zu finden, wenn man lange genug danach Ausschau hält«, bemerkte Rock Point.
»Leider hat ihm die ganze Zeit, die er an Land verbringen musste, keineswegs geschadet«, seufzte Merlin. Fragend wölbte Rock Point eine Augenbraue, und Merlin verzog das Gesicht. »Der Verstand dieses Mannes übertrifft wahrscheinlich sogar nach den Ahlfryds«, betonte er. »Und er hat mehr Erfahrung auf See als praktisch jeder andere im Dienste der Kirche. Sehr töricht also, ihn kalt zu stellen - und gut für uns. Nur hat er offenkundig die Zeit, die ihn die ›Vierer-Gruppe‹ an Land hat versauern lassen, dazu genutzt, sich eben dieses Verstandes zu bedienen und sämtliche Fehler zu analysieren, die Maigwair und Idioten wie dieser Thorast begangen haben. Und jetzt nimmt er all die Früchte, die sein Nachdenken getragen hat, und setzt seine Überlegungen in die Tat um.«
Rock Point knurrte zustimmend. Ebenso wie Merlin und Cayleb war auch der Baron zu dem Schluss gekommen, Thirsk sei mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit derzeit Charis' gefährlichster Gegner. Merlin hatte Recht: Der Mann besaß einen gefährlich leistungsfähigen Verstand. Schlimmer noch, er scheute sich nicht im Mindesten, das zu tun, was Merlin ›um die Ecke denken‹ nannte. Dass er etwa darauf beharrt hatte, die Kirche müsse die Familien sämtlicher zwangsrekrutierten Matrosen versorgen, war gänzlich beispiellos. Die Idee war auf erbitterten Widerstand gestoßen, und nicht allein aus den kirchlichen Kreisen. Eine beachtliche Anzahl ranghöherer Offiziere der Dohlaran Navy hatte sich gegen die Umsetzung des Vorschlags gesperrt. Ein Teil dieses Widerstands war natürlich der reine Reflex, alles beim Altbekannten zu lassen. Zum Teil rührte er auch aus der Furcht, die Idee könne zur üblichen Praxis avancieren - dann müsste auch die Navy in Zukunft ähnliche finanzielle Verpflichtungen übernehmen. Aber zumeist war der Widerstand reiner Verärgerung geschuldet. Denn Thirsk wurde durch Herzog Fern und Captain General Maigwair in nie gekannter Weise unterstützt. Und dass Thirsk bereit war, sich mit Hilfe dieser Unterstützung seinen Weg gegen jeden Widerstand zu bahnen, verärgerte zusätzlich. Reformer waren selten beliebt. Das Ausmaß des Widerstands, den sie hervorriefen, stand üblicherweise in einem direkten Verhältnis zur Notwendigkeit der angestrebten Reform.
Daraus lässt sich etwas lernen, sinnierte Merlin. Oder zumindest birgt es beachtliche Ironie, wenn man bedenkt, wie unbeliebt ›Reformer‹ wie Cayleb Ahrmahk und Maikel Staynair derzeit im Tempel sind!
»Euch ist ja wohl bewusst ...«, ergriff der Baron nach einigen Sekunden des Schweigens
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