Die Eisfestung
weiter und weiter, streunten aus, quer über die weiße Fläche, wie Kugeln aus einem Maschinengewehr, lange Linien durch den unberührten Schnee ziehend. Ringsum blickten graugrüne Mauern und leere Bögen auf sie herab. Weil sie nicht laut werden durften, das wussten sie, unterdrückten sie das Triumphgeschrei, das in ihren Kehlen aufstieg, aber von einem anderen Drang wurden sie umso stärker ergriffen – zu rennen, zu tanzen, den Schnee mit den Füßen wild aufstäuben zu lassen, an diesem verbotenen Ort Spuren zu hinterlassen. Sie rannten hin und her, drehten Loopings und Kreise, mit ausgestreckten Armen, wie Flugzeuge, im Sturzflug aufeinander zuschießend, aber sie berührten sich nie, schauten sich nie in die Augen. Einmal griff Simon nach einer Handvoll Schnee und schleuderte ihn in Emilys Richtung, aber er machte das nur halbherzig, und wenn sie es bemerkt hatte, so reagierte sie nicht darauf.
Sie hörten einer nach dem anderen auf, zuerst Marcus, dann Simon und Emily, und alle an anderen Orten des leeren Raums. Marcus und Simon ließen sich jeder in einer Ecke auf die Schwellen von zwei dunkel gähnenden Torbögen fallen. Emily lehnte sich in der Mitte einer der Mauern gegen den Stein, den Kopf nach hinten gelegt, die Augen geschlossen.
Sie spürte das Blut in ihren Schläfen pochen. Sie atmete schwer. Ihr Herz dröhnte bei jedem Schlag. Ein Schwindelgefühl überkam sie, weiße Blitze explodierten hinter ihren Augenlidern. Als es vorbei war, öffnete sie die Augen wieder.
Der Himmel hatte einen Rahmen aus zerklüftetem Mauerwerk, das seine spitzen Kanten in die Wolken schob. Die schwache Wintersonne erhellte die obersten Steine. Zwei Vögel, Krähen oder Raben, flogen über sie hinweg und verschwanden hinter den geköpften Säulen, die früher einmal ein Fenster verziert hatten. Ihre schwarzen Nester ragten unordentlich aus Mauerspalten und Gesimsen hervor.
Emily konnte hören, wie der Wind durch die Gerippe der oberen Fenster pfiff, aber hier unten im Bauch des Gebäudes regte sich kein Lufthauch. Ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich; sie fühlte sich entspannt und ihr war angenehm warm. Träumerisch blickte sie nach oben, auf die zwei schmalen, eng aneinandergerückten Fenster, die von einem einzigen, breiten Bogen überspannt waren. Vielleicht war durch sie früher das Licht in das Zimmer des Burgfräuleins gefallen. Sie glaubte fast zu spüren, wie hell und luftig es in diesem Raum gewesen sein musste, mit seinem Blick weit über die Felder und Wälder, sie hörte Schritte über die Steinfliesen huschen, das Knistern des Kaminfeuers...
Ein leises Pfeifen war zu hören. Emily kehrte in die Gegenwart zurück und blickte sich suchend um. Marcus und Simon waren verschwunden.
Sie wartete noch etwas, aber das Pfeifen wurde nicht wiederholt. Dann löste sie sich von der Mauer und ging zu der Holzbude hinüber, die am Rand des Innenhofs stand. Sie wischte das Eis von einem der kleinen Fenster weg und schaute hinein. Billige Faltblätter über die Burg lagen in einem ordentlichen Stapel, es gab eine leere Geldkassette, ein kleines Holzregal mit Souvenirs – Postkarten, Lesezeichen, Kugelschreiber, Radiergummis. Emily erinnerte sich daran, dass sie sich einen Radiergummi gekauft hatte, als sie vor vielen Jahren mit ihren Eltern hier gewesen war. Er war rosa gewesen, mit einer schwarzen, aufgedruckten Zeichnung von der Burg, und sie hatte ihn damals sehr schön gefunden. Jetzt kamen ihr diese ganzen Sachen billig und geschmacklos vor, bloßer Kinderkram.
Hinter dem Brett, auf dem das alles ausgebreitet war, befanden sich ein Stuhl, ein Schrank und etwas, das aussah wie ein Heizgerät. Emily ging um die Hütte herum auf die andere Seite und drückte die Klinke. Zu ihrer großen Überraschung ging die Tür auf. Sie stand einen Augenblick reglos da, mit klopfendem Herzen, dann zuckte sie mit den Schultern. Sie war bereits eine Einbrecherin, da machte das hier keinen Unterschied mehr. Sie trat ein.
Auf dem Fußboden lag ein abgetretener Teppich. Unter dem Brett befand sich ein Regal mit Büchern und alten Zeitschriften, wahrscheinlich vertrieb sich die Person in dem Häuschen damit ihre Langeweile. Sonst war der Raum leer. Emily hätte gerne den Schrank geöffnet, aber er war mit einem kleinen Vorhängeschloss versperrt. Dann untersuchte sie das Heizgerät. Sie konnte kein Kabel entdecken, also war es kein Elektroheizer, sondern er funktionierte mit Gas oder Öl, und vielleicht war noch etwas davon
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