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Die Eisfestung

Titel: Die Eisfestung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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aber wünschte sie, sie wäre niemals in die Burg zurückgekehrt – überhaupt niemals hierhergekommen. Wer hatte nur den blödsinnigen Einfall gehabt, heute hier zu übernachten?
    Sie. Sie selbst war es gewesen. Sie konnte die Schuld auf niemanden abwälzen.
    Die Muskeln in ihrer Schulter begannen zu schmerzen. Ihr linker Arm fing vor Anstrengung zu zittern an. Vorsichtig löste sie ihren Griff an der Mauer etwas, um die verkrampfte Stellung ihrer Muskeln zu verändern. Ihre Fingernägel kratzten über den Ruß. Ein feines schwarzes Rinnsal aus Staub rieselte in die Kaminöffnung hinunter.
    Sie beobachtete die Stäubchen, wie sie nach unten schwebten und sich im Licht langsam drehten.
    Das konnte unmöglich unbemerkt bleiben.
    Sie biss sich auf die Lippe, schloss die Augen, wartete …
    Wartete …
    Emily öffnete die Augen. Im Zimmer war es still. Es war nichts zu hören. Kein Schniefen, Husten oder Schlurfen. Keine Schritte. Kein Rascheln. Nein, sosehr sie sich auch bemühte, noch auf die kleinste Kleinigkeit zu achten, sie spürte in dem Raum keine Gegenwart einer anderen Person mehr.
    Aber auch jetzt rührte sie sich noch nicht.
    Fünf Minuten verstrichen. Der Schmerz in Emilys Schulter wurde immer unerträglicher. Immer noch kein Geräusch aus dem Zimmer. Aber je länger sie wartete und je aufmerksamer sie lauschte, desto unsicherer fühlte sie sich. Sie fragte sich, ob die Stille nicht trügerisch war. Sie sah Harris vor sich, wie er reglos vor dem Kamin stand, ein Raubtier, das auf seine Beute lauerte. Er hatte seine Freude daran. Er wusste, wo sie war. Er würde so lange warten, bis sie sich sicher fühlte, bis sie wie eine Maus ängstlich aus ihrem Loch herauskam – und dann würde er sie packen.
    Sie hielt grimmig durch, auch wenn alle Muskeln an ihren Armen, Händen, Fingern inzwischen zitterten. Ihr gekrümmter Rücken, der mit dem Rucksack gegen die Mauer gepresst war, brannte vor Schmerz. Ihr war speiübel. Es kam ihr so vor, als ob sie schon Stunden, Tage in diesem Kamin steckte... Sie hielt es nicht mehr aus …
    Dann konnten ihre Finger sie nicht mehr halten. Zusammen mit einer Lawine aus losem Mauerwerk, Staub und mittelalterlichem Ruß fiel Emily aus dem Kamin auf den Boden. Bei dem Aufprall schlug sie sich an dem Metallrost den Fuß an. Sie plumpste auf die Steinplatten, die Arme wie zwei Uhrzeiger zum Zimmer ausgestreckt, die Beine immer noch angewinkelt. Eine schwarze Wolke senkte sich langsam auf sie herab.
    Durch den dunklen Staubschleier blickte sie zu der Holzdecke hoch, die über ihr war. Das war alles, was sie sah. Kein hasserfülltes Gesicht. Niemand stürzte sich auf sie. Sie war allein in dem Zimmer.
    Lange Zeit lag sie einfach nur da, nach Atem ringend, zu erschöpft, um weinen zu können.
    Nach einer Weile rührte sie ihre Glieder, stöhnte leise auf, als sie den Schmerz in ihrem Fuß fühlte. Langsam stand sie auf und humpelte ans Fenster. Sie ließ ihren Rucksack neben sich auf den Mauervorsprung gleiten, beugte sich behutsam vor und schaute auf die weiße Schneefläche hinab. In einiger Entfernung spielten mehrere Kinder. Es war auf der anderen Seite des Grabens, knapp hinter der Hecke. Sie machten eine Schneeballschlacht. Emily beobachtete sie teilnahmslos. Sie waren zu weit entfernt, um ihre Gesichter erkennen zu können.
    Als sie erneut Schritte auf der Wendeltreppe hörte, rief das in ihr keine besondere Regung hervor. Okay, dann sollte Harris kommen. Sie war so müde, es kümmerte sie nicht mehr.
    »Da bist du ja!«
    Sie drehte sich um. Marcus stand in der Tür.
    »Hast du die ganze Zeit hier gesteckt? War was los bei dir? Was hast du denn... ich fass es nicht, du bist tatsächlich in den Kamin geklettert? Haha! Alles schwarz! Schade, dass hier kein Spiegel ist – du siehst aus wie ein Pandabär!« Er lachte und kam zu ihr ans Fenster.
    »Rutsch ein Stück!«
    »Aua! Mein Fuß!«
    »’tschuldigung. Was hast du damit gemacht? Verknackst?« Mit einem breiten Grinsen setzte er sich hin. So fröhlich hatte Emily ihn noch nie erlebt.
    »Ja, und das ist gar nicht lustig. Tut verdammt weh.«
    »Tut mir leid. Aber, Em, wir haben es geschafft! Wir haben überlebt! Wir sind die Sieger! Wir können stolz auf uns sein!«
    »Mir tut alles weh. Ich bin viel zu erschöpft, um stolz auf mich zu sein. Und schau mich an – alles voller Ruß.«
    »Keine Schlacht ohne Wunden. Aber wir haben gewonnen. Mensch, Em, wie haben wir das gemacht?«
    »Wir sind um ein Haar erwischt worden, das ist

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